Augenblick noch, erst noch die Schuhe binden, dann geht’s los. Sorgfalt zahlt sich da aus. Die Schnürsenkel müssen von Loch zu Loch straff, aber nicht zu fest gezogen werden, dann hat der Fuß Halt, aber auch noch ein bisschen Platz, wenn er später anschwillt. So, fertig und los. Eine lange Runde jetzt, da bleibt genügend Zeit für einen Plausch unter Läuferinnen und Läufern. Ist doch großartig, dass ein paar Schlappen für diesen Sport genügen, olle oder besser natürlich die neuen aus dem Laufshop – und an der eigenen Haustüre wird gestartet. Keine Anfahrt, kein Zeitverlust – und Strecken finden sich überall.
Bitte nicht zu schnell. Die rote Ampel kommt grade recht. Leichtes Joggen im Stand. Wer Tempo bolzen will, muss sich noch gedulden. Warmlaufen heißt es am Anfang. Es ist ja auch noch ganz schön frisch frisch. Aber lieber immer anfangs ein bisschen frieren, als mollig eingepackt loszulaufen und nach drei Kilometern Mütze, Handschuhe und Schal verfluchen, weil sich das alles nach Sauna anfühlt.
Und langsam bitte. Ein guter Anhaltspunkt für ein lockeres Tempo: Unterhalten. Zum Beispiel darüber, warum gerade so viele Leute neu mit dem Laufen angefangen haben. Oder wie man die richtigen Schuhe findet, oder warum die Profiläufer immer schneller und die Hobbyläufer immer langsamer werden. Und nein, das liegt nicht an dem langsamen Start jetzt.
Es gibt Schuhe, die man plötzlich hasst
Kilometer 1. Geht doch, einer ist schon geschafft. Bald wird es hell. Ja, wer auf der langen Strecke unterwegs ist, startet besser früh. Im Hochsommer, bis auf das Aufstehen, gar kein Problem, ist ja hell, jetzt im Winter, na ja, Kopfsache. Kopfsache im wahrsten Sinn des Wortes. Denn dort bindet man sich die Stirnlampe um. Eigentlich ein schreckliches Ding. Viel zu wenig Licht, eine Mini-Welt auf Halbschatten, in die man nie hineinkommt, weil sie immer zwei Schritte vor einem liegt. Aber ohne Kunstlicht ist kriminell, ein Stein nur, einmal umknicken – und alles Training wird auf null gesetzt.
Aber jetzt ist Herbst – und wer sagt es denn: Plauschen vertreibt die Zeit. Kilometer 3. Das Frösteln ist weg. Die Tempobolzer können sich an ihre Intervalle machen. Viel Spaß und tschüssi. Hier geht’s gemächlich, aber auf schnellen Schuhen weiter. Nur so viel vorab: Das Beste kommt heute zum Schluss, versprochen. Die gut gedämpften Schlappen sind im Schrank geblieben. Übrigens, über Schuhe können sich nicht nur Fashionblogger stundenlang unterhalten, Läuferinnen und Läufer stehen ihnen da in nichts nach.
Schuhe ist das große Thema beim Laufen. Schuhe mit und ohne Stütze. Leichte oder weiche. Mit Barfußcharakter oder – der neueste Schrei – mit Carbon-Platte. Es gibt Schuhe, die man plötzlich zu hassen beginnt, weil sie sich beim Tempolauf als Bremsklötze entpuppen, und Schuhe, die man vom ersten Lauf an liebt. So leicht, dass man sich mit ihnen fast schwerelos fühlt.
Und der da, dieser Strich in der Landschaft, das ist der Händler des Vertrauens, der hier auch regelmäßig unterwegs ist. Er hat mal bei einem Einkauf ein wunderbares Paar Laufschuhe vorgezeigt, die Gebrauchten eines Kunden, durchgelaufen, dass fast schon der nackte Fuß zum Vorschein kam, ein Laufschuh jenseits von gut und gesund. Bitte, mit so etwas nie! Gelenke können äußerst nachtragend sein. Nach 1000 Kilometern gehören die Schuhe ausgewechselt. Und man darf ruhig auch zwei Paar im Schrank stehen haben, zum Wechseln. Damit gehört die Läuferin oder der Läufer noch immer zu den Sparsamen. Denn Achtung: Durchschnittlich besitzen laut Umfrage Joggerinnen und Jogger sechs Paar.
Kilometer 5. So, fast eine halbe Stunde in Bewegung. Man kann die Uhr nach ihr stellen, hier, die Frau mit dem Golden Retriever, „Guten Morgen“, man kennt sich jetzt schon geraume Zeit. Wer regelmäßig läuft, entdeckt früher oder später diejenigen, die auch regelmäßig zur gleichen Zeit draußen unterwegs sind. Das ist das Gesetz der Gewohnheit. Und nicht alle sind sympathisch.
Der Typ mit dem Mickey-Mouse-Kopfhörer, der von vorhin: ein Stoffel. Grüßt nie. Verschanzt in seiner Musik. Aber die Zeitungsausträgerin winkt immer zurück, nur heute ist es für sie schon zu spät. Und weiß irgendwer, was aus der Frau mit den beiden weißen Hunden geworden ist? Lief wochenlang die gleiche Strecke, ihr ist doch hoffentlich nichts passiert? Vielleicht verbringt sie die nassen und kühlen Herbsttage woanders, die Glückliche.
Das läuft doch richtig gut jetzt, Kilometer 6, im Wald angekommen, gleich geht es auf die große Wiese. Endlich mal was zu sehen, gerade die ersten Sonnenstrahlen am Morgen, die wie die reinste Energiespritze wirken. Aber bitte nicht losspurten jetzt. Das Beste kommt heute, wie erwähnt, zum Schluss. Und spätestens auf der Wiese ist einmal Zeit zum Genießen. Laufen, das heißt ja auch rauskommen, in die Natur kommen, Haus, Straße, Auto, Stadt hinter sich lassen, nach draußen an schöne Orte kommen, die man zwar nicht festhalten kann, aber vielleicht als Bild für den Tag mitnehmen kann.
Und ist jetzt schon wieder ein Kilometer runter. Sieben jetzt? Na dann mal ein Blick auf die Uhr. Nein, Kilometer 6,4. Genau so viel läuft laut Statista der durchschnittliche Läufer in Deutschland pro Einheit. Und apropos Uhr: Laufen und Uhr, darüber könnte man Romane schreiben, ob mit oder ohne. Denn ohne Uhr hat ja auch seinen Reiz. Sich auf sein Gefühl verlassen und wenigstens für den Lauf aus der Leistungsgesellschaft aussteigen. Kein Bewerten hinterher, ob nun schnell oder langsam, gut oder schlecht. Ohne Uhr zu laufen heißt, das Laufen zum Zweck an sich zu erheben, einfach weil es Spaß macht.
Frage aller Fragen: Warum?
Aber der Spaß, das ist für viele, vor allem für diejenigen, die gerne laufen würden, aber nie wirklich Feuer gefangen haben, der wunde Punkt schlechthin. In der Theorie mag das Laufen ja noch so toll sein, weil es gut für Herz und Kreislauf ist, weil es jeder kann, weil es beim Abnehmen hilft, ach, aus vielen, vielen Gründen. Aber praktisch ist es vor allem anstrengend und eintönig, fällt das Atmen schwer, verlässt einen die Kraft viel zu früh, stellt sich spätestens beim dritten Training die tödliche Frage: Warum?
Damit werden die neuen Laufschuhe fortan als Sneaker getragen. Die Antwort auf die W-Frage lautet: Der Knoten muss platzen. Bei der einen früher, bei dem anderen später, je nachdem, ob es sich um einen doppelten, dreifachen, vierfachen handelt. Er muss platzen. Und – das mag jetzt völlig absurd klingen – am schnellsten passiert das, wenn man einfach jeden Tag läuft. Erst wenig, bis das locker und leicht geht, dann gerne auch mehr. Und spätestens wenn man ohne zu zögern die Schuhe bindet, um seine Runde zu drehen, weil es ohne nicht mehr geht, hat man sein „Darum“ entdeckt.
Kilometer 8 übrigens, es wird doch
Was seit der Corona-Pandemie draußen auffällt, es gibt viel mehr Läuferinnen und Läufer. Zu den 21 Millionen mehr oder weniger Aktiven, die Statista für 2020 angibt, sollen noch einmal zehn Millionen neue hinzugekommen sein. Eine irre Zahl. Und bei einigen, die auch so unterwegs sind, ist der erste Gedanke sofort: dem Fitnessstudio entlaufen, dieser Schrank. Ja, andere Läuferinnen und Läufer zu beobachten, wenn sie entgegenkommen oder einen überholen, gehört schon auch fest dazu. Da, eben der Ausrüstungsweltmeister, ist mit Trinkrucksack unterwegs. Und man möchte gar nicht wissen, was er noch alles dabei hat. Ein Cape, Handschuhe für alle Fälle, ganz sicher etwas zu essen. Das Gegenteil sind die Puristen, denen der eigene Haustürschlüssel noch zu schwer ist.
Erschütternd manchmal, wenn die Stilisten über den Boden schwebend an einem vorbeirasen, aufrecht wie aus dem Lehrbuch in einem Tempo, das sich verrückt anfühlt. Wohingegen die nach vorne gebeugten Kilometerfresser manchmal gar nicht mitbekommen, was um sie herum vorgeht. Ein Typus, in der Regel männlich, ist weithin gefürchtet: die Muffler, die an dieser Stelle offiziell darauf hingewiesen werden, dass auch Laufkleidung sehr wohl nach dem Gebrauch in einer Waschmaschine von dem befreit werden kann, was andere im Vorbeilaufen als Geruchsbelästigung wahrnehmen. Aber jetzt Schluss mit schlechter Stimmung, die macht die Beine schwer.
Und, ups – war das nicht eben Kilometer 9? Wunderbar. Gleich kommt der Zehner, eine zweistellige Zahl, für die man irgendetwas zwischen 40 und 70 Minuten benötigt, je nach Trainingszustand und Alter. Für viele der ideale Moment, um zu Hause einzubiegen und sich gedanklich mit der Dusche zu beschäftigen. Aber wer sich weitere Ziele setzt, für die Langstrecken trainiert, einmal Halbmarathon (21,1 Kilometer) oder Marathon (42,2 Kilometer) laufen möchte, für den geht es jetzt erst richtig los. Wie heißt es so schön bei dem legendären Lauftrainer Peter Greif: „Jeder Kilometer hilft“.
Jetzt wird es ziemlich sportlich
Ah Peter, den Satz muss man sich einfach als ein Mantra jeden Morgen mit auf die Runde nehmen. An den Wochenenden stehen bei ihm die Langen auf dem Programm, 35er Runden, nach denen man am allerbesten nichts mehr weiter am Tag vorhat, nicht einmal den Wochenendeinkauf, weil das Schleppen danach sich wie Galeerendienst anfühlt. Selbst der Gang vom Bett zum Kühlschrank macht Probleme – nach der ersten oder zweiten oder dritten langen Runde. Wer einen Marathon laufen will, muss nicht nur die Muskeln, sondern auch seine Leidensfähigkeit trainieren. Und dann kommt der Tag, an dem es plötzlich leichter geht.
Übrigens – jetzt wird es dann langsam doch ziemlich sportlich – gibt es im Marathonbereich ein rätselhaftes Statistikphänomen zu beobachten: Die Spitzenathleten und -athletinnen werden schneller, der Breitensport allerdings langsamer. Und das gleicht sich nicht aus: Der Weltrekord ist bei den Männern von den 1980er Jahren ausgehend um sieben Minuten verbessert worden, die durchschnittlichen Marathon-Zeiten sind im gleichen Zeitraum um fast 45 Minuten zurückgegangen auf jetzt vier Stunden und 30 Minuten.
Kilometer 20 jetzt. Wie, immer noch jemand zum Plauschen da? Respekt. Das Beste kommt in dieser Runde, wie gesagt: zum Schluss. Bitte anschnallen jetzt. Die Beine sind schon schwer, im Kopf materialisiert sich schon das Müsli danach, der Spaß fängt jetzt aber erst so richtig an: Endbeschleunigung – die nächsten 15 Kilometer. Keine Kraft mehr zum Reden. Danke Peter, du Schinder, für diese geniale Idee.
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