Der dicke dunkle Vorhang. Der muffige Geruch. Das enge Gitter, das den Blick auf den Pfarrer verstellt. Viele von uns haben noch das Unbehagen im Beichtstuhl erlebt, in dem nicht zu erkennen war, wer den im Dunkeln geflüsterten Sünden lauscht. Modernes Beichten geht oft anders. Der bekannte Benediktinerpater Anselm Grün von der Abtei Münsterschwarzach bietet schon lange Alternativen an, zum Beispiel Beichtgespräche, bei denen man sich offen gegenübersitzt. Oft geht es dabei um Seelenballast: um trügerische Idealbilder, alte Narben und neue Verletzungen.
Als Kind musste ich vor der Erstkommunion beichten – ein beklemmendes Erlebnis, das ich nie vergessen habe. Verstehen Sie, dass Menschen ein Unbehagen gegenüber dem Beichten verspüren?
Wir müssen nicht beichten. Es ist ein Angebot. Es tut einfach gut, mal über seine Schattenseiten zu sprechen, darüber, warum wir nicht zufrieden mit uns sind. Es geht darum, einen Weg zu finden, einen neuen Anfang, keine alte Schuld mehr mit sich herumzutragen. Zu spüren: Mir ist vergeben.
Beichten als Chance, einmal die Reset-Taste zu drücken, nach dem Motto: Alles zurücksetzen, neu anfangen?
Ich gebe oft Kurse zum Thema. Viele sagen mir, sie könnten anderen leichter vergeben als sich selbst. Wir haben alle so ein Selbstbild von einem anständigen und guten Leben in uns – ein Idealbild, das sich nicht immer erfüllen lässt. Damit hadern viele oder werden traurig, weil sie nicht so sind, wie sie gerne wären. Es geht darum, sich auszusöhnen mit sich selbst.
Hadern bestimmte Menschen mehr als andere?
Frauen hadern vielleicht ein bisschen mehr. Aber es gibt auch Männer, die sich selbst nicht gut vergeben können.
Und junge Leute?
So lange es einem gut geht, setzt man sich nicht so sehr mit sich selbst auseinander. Aber auch junge Leute haben Krisenphasen. Wenn zum Beispiel Beziehungen scheitern, geht es auch um Schuld und darum, wie man mit Problemen umgehen und wie das Leben gelingen kann. Während die Beichte früher zum Alltag im Glaubensleben der Christen gehörte, ist sie heute nicht mehr so präsent, gerade nicht bei jungen Leuten. Aber Begleitungsgespräche wollen sie schon führen. Auch dabei geht es um Gottes Zusage: Du bist bedingungslos angenommen.
Es geht also gar nicht mehr so sehr um Schuld und Sühne?
Schuld heißt eigentlich, an sich vorbei zu leben. Es geht nicht stereotyp um Gebotsübertretung. Schuld ist gar nicht das Entscheidende. Wenn ich spüre, es läuft nicht so gut, kann ich das mit einem Priester besprechen. Ich kann mein Leben und die aktuellen Probleme Gott hinhalten und um Lösung bitten.
Das klingt zeitgemäßer als das altertümliche Wort beichten…
Wenn man fragt: „Stimmt mein Leben oder lebe ich an mir vorbei?“ ist das sehr zeitgemäß. Lasse ich mich von außen bestimmen oder von dem Druck, mich ständig darstellen und optimieren zu wollen? In mich zu gehen und solche Fragen zu stellen, ist sinnvoll und heilsam.
Welcher Rahmen ist der richtige, um solche Fragen mit einem Priester anzugehen?
Für manche, vor allem ältere Leute ist der Beichtstuhl ein guter Weg, weil sie anonym reden können. Wenn ich frage, was ihnen am meisten Schwierigkeiten macht, dann kommen die ganzen Nöte, Partnerschaft, Kinder… Die Beichte ist oft die einzige Möglichkeit, mal über sich sprechen zu können. Ältere Leute gehen ja eher nicht zum Therapeuten…
… und junge nicht in den Beichtstuhl!
Die meisten bevorzugen ein persönliches Gespräch von Angesicht zu Angesicht.
Wie läuft ein solches Gespräch ab?
Ich als Begleiter höre erst mal zu und stelle dann Fragen wie: Was hilft Ihnen? Wo haben Sie ein besseres Gefühl? Ich frage die Menschen nicht aus, sondern gebe ihnen die Möglichkeit, gemeinsam nach neuen Wegen zu suchen. Das Wort Frage ist mit Furche verwandt, der Furche in der Erde, in die man Samen legt, damit etwas Neues wachsen kann.
Der Priester als Therapeut?
Beichte hat schon auch was mit Therapie zu tun. Es gibt Psychologen, die ihre Klienten zur Beichte schicken. Auch die frühen Mönche haben Beichtgespräche geführt. Man könnte auch sagen, beichten ist die Urform von Therapie. Es geht um das gelingende Leben.
Das bedeutet, der Priester muss heutzutage sehr individuell auf jeden eingehen?
Ja, die Leute wollen verstanden werden, sie wollen über ihr Leben sprechen, Hilfe erfahren. Wir können da nicht nach Schema F vorgehen und einfach die Absolution erteilen. So funktioniert das nicht.
Apropos Absolution: Dass ein Mitmensch – auch wenn er ein Priester ist – einen von allen Sünden lossprechen kann, sehen heute viele Menschen mit Skepsis.
Ich lege den Menschen die Hand auf – als sinnfälligen Ausdruck dafür, dass sie ganz und gar angenommen sind. Mit ihren Fehlern und Schwächen. Das tut vielen gut. Auch spreche ich ein persönliches Gebet über denjenigen, der zur Beichte gekommen ist.
Welche Sorgen und Nöte drücken die Menschen heute nieder?
Zerbrochene Partnerschaften zum Beispiel, oder wenn man jemanden bewusst verletzt oder betrogen hat. Oder dass man sich mit Verstorbenen nicht versöhnt hat. Manche Frauen belastet es, wenn sie eine Abtreibung hatten. Meist geht es um die Frage, ob und wie man einen Fehler wieder gutmachen kann.
Was sagen Sie zum Beispiel einer Frau, die nach einer Abtreibung verzweifelt?
Ich sage ihr, dass ein Teil von ihr jetzt schon bei Gott ist – ihr Kind ist durch seinen Tod zu Gott gekommen. Ihr Kind ist trotz allem weiterhin ihr innerer Begleiter, es gehört zu ihr, sie soll es nicht wegdrängen. Um ihre Schuldgefühle zu lösen, kann die Frau einen Brief an das abgetriebene Kind schreiben – und einen vom Kind an sich selbst.
Sie bringen den Menschen also Techniken zur Verarbeitung ihrer Probleme bei.
Es gehört auch zur Beichte, Rituale zu finden, wie man loslassen kann. Manche machen sich auch nach der Absolution noch Vorwürfe. Es ist also wichtig, dass auch das Unbewusste gereinigt wird. Wenn man sich zum Beispiel tief verletzt fühlt, kann man die Verletzungen auf einen Stein schreiben und diesen bewusst weglegen oder -werfen, die Verletzungen somit loslassen.
Und wenn man an sich selbst etwas ändern möchte?
Ich überlege zusammen mit den Menschen: Wie kann es weitergehen? Woran kann ich arbeiten? Wo kann ich mir ganz bewusst Mühe geben? Wie kann ich in bestimmten Situationen zum Beispiel gelassen bleiben? Wichtig ist, sich konkrete, umsetzbare Ziele zu stecken und nicht allgemein zu sagen: „Ich will nicht mehr zornig sein.“ Das wird nicht klappen. Besser nimmt man sich vor: „Ich werde meinen Zorn künftig nicht gleich rausbrüllen!“
Sind Sie manchmal entsetzt über menschliche Abgründe, die sich in Gesprächen auftun?
Ich versuche nicht zu bewerten, sondern zu verstehen: Warum ist das geschehen? Verstehen heißt nicht entschuldigen. Aber meine Aufgabe ist es nicht zu richten. Sondern die Menschen zu ermutigen, ihr Leben Gott hinzuhalten, in der Hoffnung, dass Wunden in Perlen verwandelt werden, wie Hildegard von Bingen einst gesagt hat.
Gibt es etwas, das Sie selbst überhaupt nicht leiden können in Sachen Beichte?
Es gibt ängstliche Leute, die jeden Gedanken als Sünde sehen.
Was ist überhaupt eine Sünde?
Es geht im Kern immer um die Frage: „Schadet meine Haltung mir und anderen?“ Die Zehn Gebote sind nur ein Rahmen. Zorn kann auch berechtigt sein, man kann das oft nicht eindeutig sagen. Jeder von uns kennt aber auch das: Groll gegen alles und jeden, Pessimismus, die Verurteilung anderer Menschen – all das frisst einen im Endeffekt auch selbst auf.
Manche Menschen gehen nie beichten. Ist das aus Kirchensicht okay?
Vieles kann man auch mit sich selbst oder direkt mit Gott ausmachen. Man muss nicht beichten. Die Kirche sagt, man muss bei Todsünden beichten, aber was ist eine Todsünde? Ich merke einfach, dass die Beichte für viele Menschen eine Hilfe ist. Beichten ist eine Einladung der Kirche an alle, die schuldig geworden sind und sich deshalb ausgestoßen fühlen, wieder in die Gemeinschaft zurückzukehren.
Vor der Kommunion, Firmung und teils auch der Konfirmation werden Kinder und Jugendliche zur Buße angehalten. Sind die nicht noch zu jung für so eine spezielle Form von „Therapie“?
Die Beichte in einer guten, offenen Atmosphäre ist für manche Kinder die einzige Möglichkeit, auch mal über Eltern, Geschwister und Schule zu sprechen. In geeigneter Form – also wenn die Beichte nicht als etwas Angstmachendes erlebt wird – ist sie auch für Kinder ein heilsames Erlebnis.
Pater Anselm Grün ist Mönch der Abtei Münsterschwarzach und der bekannteste spirituelle Autor in Deutschland. Seine Bücher sind Bestseller. Für viele Menschen, unabhängig von ihrer Konfession, ist er Ratgeber und spiritueller Wegbegleiter. Weitere Infos: www.anselm-gruen.de