Von Carolin Gißibl ("humedica"-Mitarbeiterin)
Das Haus an der Straßenkreuzung gleicht einem Puppenhaus: Die Frontseite ist komplett eingerissen. Im ersten Stock ruht eine Tasse auf dem Esstisch – so als hätte sie jemand nur kurz abgestellt. Jeden Tag fährt unser Team an diesem Haus vorbei. Jeden Tag frage ich mich: Was ist aus den Bewohnern geworden?
Vermutlich hat auch für sie der Albtraum am 6. Februar 2023 um 4.17 Uhr begonnen: Mitten in der Nacht reißt ein Erdbeben der Stärke 7,7 die Menschen in der türkisch-syrischen Grenzregion aus dem Schlaf. Knapp zwei Minuten reichen aus, um Tausende unter Trümmern zu begraben. Betten werden zu Gräbern, Häuser zu Friedhöfen.
Am Mittag erschüttert ein zweites, heftiges Beben die Region. Die Landoberfläche verschiebt sich stellenweise um bis zu sechs Meter, wie Satellitenbilder des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt zeigen. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) wird später von der „schlimmsten Naturkatastrophe“ in Europa seit einem Jahrhundert sprechen. Mehr als 56.000 Menschen sterben. Über 100.000 sind verletzt. Die UNO geht davon aus, dass 70 Prozent der Verletzten an den Folgen einer Behinderung leiden werden.
Die medizinische Hilfsorganisation „humedica“ setzt noch am selben Tag einen Alarmruf ab: Einsatzkräfte sollen sich melden. Ein erstes Team fliegt in die Südtürkei, um zu prüfen, wo medizinische Hilfe besonders dringend gebraucht wird. Im Epizentrum der Beben, nördlich der Großstadt Gaziantep in der Provinz Kahramanmara, stoßen sie auf ein provisorisches Lager. 6.000 Überlebende hausen dort in Zelten. Örtliche Mediziner behandeln hier seit Tagen durchgehend, obwohl sie selbst Betroffene sind. Sie brauchen dringend eine Ablösung. Ein weiteres Team macht sich in Deutschland bereit: Ärzte, eine Kinderkrankenschwester, Koordinatoren und Logistiker.
Am Rande des Camps steht wenige Tage später das Behandlungszelt von humedica. Eisiger Wind pfeift vorbei, am Himmel kreisen Militärhubschrauber. Angehörige schieben eine Frau in einer Schubkarre herein, sie ist am Fuß verletzt. Riss- und Quetschwunden sind häufige Verletzungen. Und das sind nur die sichtbaren.
Nicht sichtbar: die seelischen Wunden. Ein Patient war 18 Stunden unter Trümmern verschüttet. Ein älterer Mann schildert, wie er zwei seiner Enkel aus den Trümmern zog. Beide tot. Ein Jugendlicher berichtet, er habe mit seiner Mutter unter dem Schutt gelegen, sein Finger stundenlang eingequetscht. Nach der Bergung musste die Fingerkuppe amputiert werden. Seine Mutter überlebte nicht.
Großfamilie auf acht Quadratmetern
Jeden Morgen laufen wir durchs Camp, um die Bewohner aufmerksam zu machen, dass medizinische Hilfe da ist. Die Zelte bestehen aus weißen Planen, mannshoch und wasserabweisend. Auf ungefähr acht Quadratmetern leben ganze Großfamilien. Nach Angaben der türkischen Regierung hausen noch immer 2,6 Millionen Menschen in Zeltstädten und rund 79.000 in Containern. An einem Tag wird eine Frau zu uns gebracht. Sie hat die Enge nicht mehr ertragen, ist rausgerannt und zusammengebrochen. Eine Panik-Attacke.
Viele Menschen sind seit den Beben traumatisiert. Dass die Erde manchmal laut grummelt, macht es nicht leichter. „Böser, knurrender Hund“, nennt ein Bewohner das Geräusch. Manchen Kindern steht die Angst ins Gesicht geschrieben. Als hätte sie das Erdbeben aus dem Schlaf gerissen hinein in einen Albtraum, durch den sie nun wandeln.
An einem Morgen fällt uns bei einem Rundgang eine ältere Frau auf: Sie sitzt vor einem Zelt und weint. Wir gehen zu ihr hin, meine Kollegin streicht über ihre Schulter, dann fallen sie sich in die Arme und halten sich – minutenlang. Nicht selten hören wir von Menschen, die zwölf oder mehr Familienangehörige verloren haben. In der Region leben viele Großfamilien. Auch drei Monate nach den großen Erdstößen suchen Menschen nach dem Leichnam verstorbener Angehöriger.
Im Lager stehen Überlebende für Hilfsgüter Schlange. Sie warte seit einer Stunde, erzählt eine Frau und bibbert. Das Warten mache ihr aber nichts aus, denn es gebe endlich frische Unterwäsche. Sie fragt, ob wir wüssten, wann Zahnbürsten kämen – Zahnpasta wurde verteilt, die Zahnbürsten fehlten. Das war an Tag zwölf nach dem Beben. Duschen konnten die Menschen tagelang nicht. Anfangs gab es kaum Toiletten. Die Krätze ging rum. Infektionskrankheiten wie Cholera und Typhus blieben in diesem Camp bislang zum Glück aus.
An einem Tag liegt ein Mann mit Verbrennungen an beiden Unterschenkeln auf der Behandlungsmatte. Er muss operiert werden. Die Ärzte von humedica überweisen ihn in ein Krankenhaus, in dem nach dem Erdbeben noch Operationen durchgeführt werden können. Doch er weigert sich. Zu groß sei seine Angst, dass die Erde erneut beben könnte – während er unter Narkose liegt. Mehr als 22.500 Nachbeben zählt die Weltgesundheitsorganisation (Stand: 16. April 2023).
Für den Notfall gepackte Rucksäcke liegen ständig in unserer Reichweite. Darin befinden sich unter anderem Pass, Rettungsdecke, Wechselkleidung, Trillerpfeife. Nachts stehen Rucksäcke, Helm und Sicherheitsschuhe neben dem Bett. An einem Abend sitzen wir beim Essen, als das Besteck auf dem Tisch wackelt. Leute um uns springen auf. Mit Schutzhelmen auf dem Kopf laufen wir nach draußen. Am nächsten Morgen lese ich in den Nachrichten, dass das Nachbeben auch in Israel, im Irak, Ägypten und Libanon zu spüren gewesen sein soll. In Syrien hätten Menschen vor Panik Herzstillstände erlitten – unter den Opfern auch ein Kind. Das Herz sei einfach stehen geblieben.
Ende Februar teilt uns der türkische Staat mit: ausländische Kräfte sollen abziehen, die örtlichen Behörden hätten alles unter Kontrolle. Die Menschen obdachlos und krank zurückzulassen, war kein schönes Gefühl. Bis zum letzten Tag besuchen unsere Ärzte einen schwer an Krebs erkrankten Mann, der mit seiner Familie in einem der Zelte lebt. Sie geben ihm nur noch wenige Tage. Dass sie ihn nicht bis zum Ende begleiten können, schmerzt. Zumindest für den Mann mit den Verbrennungen konnte ein Weg gefunden werden: in einem Zeltkrankenhaus, in dem ihm keine Decke auf den Kopf fallen kann, wird er operiert.
„Wachsen meine Beine wieder nach?“
Auch auf der letzten Fahrt passieren wir das Puppenhaus. Vorbei an der unbeschadeten Tasse. humedicas türkische Partnerorganisation bleibt vor Ort. Sie stellt auch Psychologen bereit – eine „Mangelware“. Sekundärtraumata seien allgegenwärtig, sagt eine Expertin für psychische Gesundheit im WHO-Länderbüro in Ankara.
„Das ganze Land ist entweder direkt oder indirekt betroffen, sodass die Anforderungen im Bereich der psychologischen Betreuung so groß sind wie nie zuvor.“ Auf dem Rückweg erzählt ein Mitarbeiter der Partnerorganisation von einem Jungen, etwa fünf Jahre alt. Er hat durch das Beben seinen Vater verloren und beide Beine. Im Gespräch mit einer Psychologin hat er gefragt: „Wachsen meine Beine wieder nach?“
INFO:
humedica: Die internationale Hilfsorganisation humedica finanziert die Arbeit durch Spenden: https://www.humedica.org/spende/
Spendenkonto: Sparkasse Kaufbeuren
BIC (SWIFT-Code): BYLADEM1KFB
IBAN: DE35 7345 0000 0000 0047 47
Zur Autorin: Mit einem Sprinter voller Hilfsgüter ist Carolin Gißibl aus Hallstadt bei Bamberg mit einem Kollegen in den Süden der Türkei gefahren. Nach vier Tagen – inklusive Autopanne, Schneesturm, einer langwierigen Nacht im Stau vor der türkischen Grenze und beim Zoll – sahen sie die ersten Risse in der Straße. Die gebürtige Bayreutherin absolvierte als Koordinatorin schon mehrere ehrenamtliche Einsätze für humedica – zum Beispiel nach dem Überfall auf die Ukraine oder an der syrisch-libanesischen Grenze.