Während der Pandemie hat die Gewalt gegen Kinder massiv zugenommen. Das geht aus der Auswertung der Polizeilichen Kriminalstatistik für das Corona-Jahr 2020 vor, die am Mittwoch in Berlin vorgestellt wurde. Ein Grund für den Anstieg der Fälle könnte sein, dass Anzeichen und Warnsignale für Misshandlungen oder sexuellen Missbrauch im Vorfeld nicht erkannt werden, wenn Schulen und Kitas geschlossen sind. Doch eindeutige Zusammenhänge zwischen den Zahlen und etwa dem Lockdown lassen sich nur schwer herstellen, sagte Holger Münch, Präsident des Bundeskriminalamts.
152 gewaltsame Todesfälle
Denn Missbrauch oder Misshandlung geschehen meist hinter verschlossenen Türen, die Dunkelziffer ist enorm. Die Statistik bilde aber nur das „Hellfeld“ ab. Diese Zahlen sind schlimm genug. 152 Kinder sind 2020 gewaltsam zu Tode gekommen, davon waren 115 jünger als sechs Jahre. 134 Fälle von Tötungsversuchen wurden registriert. Die Zahl der Fälle von Misshandlung Schutzbefohlener stieg im Vergleich zum Vorjahr um zehn Prozent auf 4918. Kindesmissbrauch nahm um knapp sieben Prozent auf mehr als 14 500 Fälle zu. „Die Pandemie bedeutet eine Beschränkung der sozialen Kontakte, wo die häusliche Situation eng und angespannt ist, verstärken sich Probleme“, sagte Münch. Isolation könne dazu führen, dass innerfamiliäre Gewalt und Gewalt gegen Kinder noch schwerer bekannt werden.
Der Statistik zufolge wurden 2020 jeden Tag durchschnittlich 46 Kinder Opfer sexueller Gewalt. Schätzungen gehen davon aus, dass durchschnittlich in jeder Schulklasse mindestens ein Kind sexueller Gewalt ausgesetzt ist. Besonders stark zugenommen haben Fälle von Herstellung und Besitz von Kinderpornografie. Die Zahl stieg um 53 Prozent (18 761 Fälle).
Cyber-Grooming gibt Anlass zur Besorgnis
Auch das sogenannte „Cyber-Grooming“, bei dem Kinder im Netz für sexuellen Missbrauch geködert werden sollen, gebe immer mehr Anlass zur Besorgnis. Auch Jugendliche selbst tauschen den Angaben zufolge häufig brisante Dateien aus, ohne sich Gedanken zu machen.
Der drastische Anstieg der Fälle ergebe sich aber vor allem aus den zahlreichen Hinweisen durch Behörden aus den USA, die weltweit dem sexuellen Missbrauch im Netz nachspüren. Münch rechnet damit, dass die Zahl der Fälle weiter steigt. Denn technische Verfahren würden besser, die internationale Zusammenarbeit enger. „Wir begrüßen diese Aufhellung des Dunkelfelds sehr“, sagte Münch.
Weil die überwiegende Anzahl von Straftaten gegen Kindern in deren privater Umgebung geschehe, appellierte Münch an die Bevölkerung, wachsam zu sein: „Zögern Sie nicht, sich mit einem Verdacht an die Behörden zu wenden.“
Johannes-Wilhelm Röhrig, Unabhängiger Beauftragter der Bundesregierung für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs, nannte den Anstieg der Fallzahlen von Missbrauch und Missbrauchsdarstellungen „unerträglich“. Hinter der Statistik stehe „zehntausendfaches Leid von Kindern und Jugendlichen“. Die meisten Taten blieben unentdeckt. Das Netz werde überschwemmt von Kinderpornografie, Tausenden von Hinweisen könne wegen Überlastung der Behörden nicht nachgegangen werden.
Grundsatzstrategie gegen Missbrauch im Netz
Röhrig: „Deutschland muss jetzt handeln, solange Politik und Gesellschaft nicht gewillt sind, den Kampf konsequenter zu führen, solange wird es tausendfach geschehen, dass Kinder in Deutschland vergewaltigt und missbraucht werden.“ Die Bundesrepublik brauche eine starke Grundsatzstrategie gegen Missbrauch im Netz, die Strafverfolgung müsse deutlich verschärft werden. „Internet darf nicht weiter Paradies für Pädo-Kriminelle sein“, sagte Röhrig. Er fordert eine Enquete-Kommission aus Behörden, Verbänden und auch den Internet-Unternehmen, die von der kommenden Bundesregierung gegen den Missbrauch im Netz eingesetzt werden müsse.
Ekin Deligöz, Vizepräsidentin des Deutschen Kinderschutzbundes, sagte dieser Redaktion: „Dieser Anstieg an kindlichen Gewaltopfern ist schrecklich. Und ich befürchte, dass durch die Corona-Pandemie eine hohe Dunkelziffer dazu kommt.“ Die Grünen-Bundestagsabgeordnete forderte: „Bund und Länder müssen ihre Anstrengungen beim Kinderschutz personell und konzeptionell verstärken. Es gibt noch zu viele unerledigte Aufgaben bei Prävention, Strafverfolgung und Hilfen für Betroffene.“