Über dem Haupteingang des Reichstagsgebäudes in Berlin steht in großen Lettern, für wen in dem Gebäude gearbeitet wird und wem es dient: „Dem deutschen Volke“. Dieser Satz ist Verpflichtung und Aufforderung an die Politiker im Hohen Hause zugleich. Allein, dass Deutschland eine der stabilsten Demokratien der Welt ist, zeigt: Die Widmung wird ernst genommen. Doch es geht oft immer noch ein Stückchen besser – und so könnten in Zukunft Bürgerräte die Arbeit des Parlaments ergänzen und die vielfach empfundene Kluft zwischen „denen da oben“ und den Menschen im Lande verringern.
Empfehlungen ans Parlament
Bürgerräte sollen mit Menschen aus allen Teilen der Republik und der Gesellschaft besetzt werden und zu bestimmten Themen Empfehlungen für den Bundestag erarbeiten. So lautet die Grundidee. Details stehen aber noch nicht fest. Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) – der das Amt mit großer Sicherheit nach der Wahl weiter bekleiden wird – hat diese Form der Beteiligung vorangetrieben. Auf seinen Vorschlag hin ließ der Ältestenrat des Bundestages im Juni vergangenen Jahres einen Testballon steigen: Ein Bürgerrat aus 160 per Los ausgewählten Menschen erarbeitete ein Gutachten zur Rolle Deutschlands in der Welt.
Das Vorhaben wurde vom Verein „Mehr Demokratie“ unter Schäubles Schirmherrschaft umgesetzt und wissenschaftlich ausgewertet. In den Fraktionen wurde und wird die Idee grundsätzlich begrüßt. „Wenn sich Bürgerinnen und Bürger in ein Einzelprojekt einbringen, weil sie sich nicht für vier Jahre an Parlament oder sechs Jahre in die Kreis- und Gemeinderäte einbringen wollen oder können, finde ich das eine gute Ergänzung unserer parlamentarischen Demokratie“, sagte FDP-Fraktionsvize Stephan Thomae.
Noch viele Fragen offen
Wobei noch viele Fragen offen sind. Etwa die, wie die Teilnehmerinnen und Teilnehmer ausgesucht werden. Ein Losverfahren wäre eine Möglichkeit, über andere Ansätze muss allerdings noch gesprochen werden. Das Verfahren müsse sicherstellen, „dass die Mehrheit nicht die Minderheit majorisiert, sondern die Minderheit genauso vertreten ist wie die Mehrheit und ihre berechtigten Sichtweisen und Interessen einfließen lassen kann“, sagte Thomae.
Die Kritiker
Kritiker der Bürgerräte verweisen gerne darauf, dass der Bundestag an sich ja schon ein Bürgerrat sei und es diese deshalb nicht brauche. Der SPD-Abgeordnete Helge Lindh sieht das differenzierter. „Wir bilden im Deutschen Bundestag sicherlich die Breite der Bevölkerung stärker ab als die Parlamente anderer Länder, die USA zum Beispiel. Es ist aber erkennbar nicht der Querschnitt der Bevölkerung, den wir abbilden“, sagte er unserer Redaktion. „Und zweitens gilt: Wir bewegen uns im Parlament in einem eigenen Kosmos. Ein Bürgerrat würde die Möglichkeit bieten, dass diejenigen mitreden können, die diesem Kosmos nicht angehören.“
Für ein sorgfältiges und durchdachtes Auswahlverfahren ist daher auch der SPD-Innenpolitiker Lindh. Die Bürgerräte der Zukunft müssten die Breite der Gesellschaft abbilden und auch Gruppen eine Stimme geben, die normalerweise nicht gehört würden. Wichtig ist, dass wir mehr und neue Beteiligung schaffen und nicht nur die Interessen der ohnehin besser Beteiligten spiegeln.“ Ein Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages mahnt ebenfalls, bei einer Einsetzung von Bürgerräten hohe Sorgfalt walten zu lassen sowie „bestimmte Aspekte und Rahmenbedingungen“ zu beachten, damit das „aufwendige Verfahren der Willensbildung“ wirklich zum Erfolg werde.
„Nicht nur ein Testballon“
Der Bundestag hat bereits erste Anläufe unternommen, um diese neue Form der Beteiligung zu etablieren. Der Ältestenrat hatte das Thema in der letzten Sitzungswoche noch auf der Tagesordnung, fasste aber keine weiteren Beschlüsse. Diese müssen nun die Abgeordneten der nächsten Legislaturperiode herbeiführen – und Lindh hat klare Vorstellungen. „Bürgerräte dürfen nicht nur ein Testballon sein, sondern sie müssen auf Bundesebene eine feste Grundlage haben. Am Ende geht es darum, dass wir eine Verfassungsdebatte zu dem Thema führen.“
Auch Stephan Thomae ist dafür, das Thema weiter zu verfolgen. „Wir haben in den letzten Jahrhunderten die Grammatik der parlamentarischen Demokratie ungeheuer verfeinert“, erklärte der FDP-Politiker. Es lohne sich, „jetzt auch Formen der Direktbeteiligung weiterzuentwickeln und mit dem Parlamentarismus zu verzahnen. Projektbezogene direktdemokratische Elemente ließen sich durchaus in den Parlamentsbetrieb einbauen.“