Druck auf Johnson
Krisenstimmung bei den Briten
Der britische Gesundheitsminister Sajid Javid (links) und sein Amtskollege, Finanzminister Rishi Sunak, lösten  mit ihren Rücktritten aus dem Kabinett von Premierminister Boris Johnson (rechts) eine neuerliche Regierungskrise in Großbritannien aus.
Der britische Gesundheitsminister Sajid Javid (links) und sein Amtskollege, Finanzminister Rishi Sunak, lösten mit ihren Rücktritten aus dem Kabinett von Premierminister Boris Johnson (rechts) eine neuerliche Regierungskrise in Großbritannien aus.
Archivfoto: Toby Melville/PA Wire/dpa
F-Signet von Tobias Ebner Fränkischer Tag
London – Immer mehr Minister und konservative Abgeordnete treten zurück und sprechen Boris Johnson ihr Misstrauen aus.

Ein Unwetter braut sich manchmal schnell zusammen. Und so kam auch der heftige politische Sturm, der am Dienstag über der britischen Regierung ausbrach, plötzlich. Am Abend traten gleich zwei von Boris Johnsons wichtigsten Minister zurück: Schatzkanzler Rishi Sunak und Gesundheitsminister Sajid Javid. Es war der Anfang einer massiven Rücktrittswelle, die noch nicht zu Ende ist. Johnson hielt jedoch weiter an seinem Amt fest.

„Johnson am Abgrund“ titelt die Times

„Johnson am Abgrund“ titelte gestern die britische Tageszeitung „The Times“. Die Frage sei nicht mehr ob, sondern nur noch wann er geht, sind sich Experten einig. Der Druck auf Johnson wuchs gestern stündlich. Am späten Nachmittag forderte Bauminister Michael Gove, dass er sein Amt niederlegt.

Eine Delegation von führenden Ministern soll ihn gestern Abend in der Downing Street besucht haben, um ihn zum Rücktritt zu bewegen. Und auch die Bevölkerung scheint dem Regierungschef überdrüssig. Sieben von zehn Britinnen und Briten sind Umfragen zufolge der Meinung, dass Johnson zurücktreten soll – und 54 Prozent der konservativen Wähler, mehr als jemals zuvor.

Dass es ausgerechnet der Skandal um den konservativen Abgeordneten Christopher Pincher sein würde, der Johnson zum Verhängnis wird, damit hatte im Vorfeld keiner gerechnet. Der stellvertretende parlamentarische Geschäftsführer der Partei trat vergangene Woche zurück, nachdem er zwei Männer in einer Kneipe sexuell belästigt hatte. Es war nicht das erste Mal. Boris Johnson leugnete daraufhin jedoch, über das wiederholte Fehlverhalten Pinchers informiert worden zu sein, bevor er ihm im Februar das Amt übertrug.

„Zu wenig, zu spät“

Nachdem jedoch am Dienstag sogar der Ex-Staatssekretär Simon McDonald Johnson in einem außergewöhnlichen Schritt öffentlich per Brief der Lüge bezichtigt hatte, erfolgte eine überraschende Kehrtwende. Der Premier habe doch davon gewusst, erklärte ein Regierungssprecher.

Johnson entschuldigte sich am Dienstagabend im Fernsehsender BBC für die Ernennung Pinchers. Für Sunak und Javid war das jedoch wohl „too little, too late“, „zu wenig, zu spät“, wie Kommentatoren sagten. In seinem Rücktrittsschreiben an den Premierminister teilte Sunak mit, dass die Regierung „so nicht weitermachen kann“, weil Johnson durch sein Verhalten die ganze Partei in Mitleidenschaft ziehe.

Zweifel an Johnsons Integrität wächst ständig

Tatsächlich ist der Skandal um Pincher nur der vorerst letzte in einer langen Reihe. Zweifel an Johnsons Integrität kamen schon im Oktober letzten Jahres auf. Damals versuchte er, den Abgeordneten Owen Patterson nach Korruptionsvorwürfen vor einer Suspendierung zu bewahren. Wenig später berichtete er von seinem Wochenendausflug in einen Vergnügungspark namens „Peppa Pig World“, imitierte das Geräusch eines beschleunigenden Autos und verglich sich mit Moses, der die zehn Gebote seiner Klimapolitik verbreitet.

Die schlimmste Krise begann jedoch, nachdem Johnson im Herbst vergangenen Jahres behauptet hatte, nichts von Partys während des Lockdowns in der Downing Street 10 gewusst zu haben. Die Beamtin Sue Gray recherchierte, schließlich nahm auch die Metropolitan Police Ermittlungen auf.

Anfang des Jahres erhielt Johnson ein Bußgeld, beendet ist der Skandal damit aber nicht. Eine Untersuchungskommission soll nach wie vor herausfinden, ob Johnson das Parlament belogen hat, als er sich bezüglich der Feiern ahnungslos gab.

Zeit für „frischen Start“

Während viele Minister in Ermangelung eines Nachfolgers und angesichts globaler Krisen lange an Johnson festhielten, dreht sich nun der Wind. Der Chef der Labour-Partei Keir Starmer betonte, dass es endgültig Zeit für einen „frischen Start für Großbritannien“ sei. Johnson bezeichnete die Idee, dass er sein Amt niederlegen solle, jedoch als „verrückt“.

Er sagte im Rahmen der gestrigen wöchentlichen Fragerunde, dass es die Aufgabe eines Premierministers sei, in „schwierigen Zeiten weiterzumachen“. Und das werde er tun.

Erneutes Misstrauensvotum?

Nachdem Johnson vergangenen Monat ein Misstrauensvotum innerhalb seiner Fraktion überstanden hat, kann eigentlich für ein Jahr kein weiteres ausgerufen werden. Ein Komitee bestehend aus konservativen Abgeordneten will jedoch die Regeln ändern und eine erneute Abstimmung möglich machen. Wann dies der Fall sein könnte, war zum Zeitpunkt des Andrucks dieser Zeitung noch offen.

Ohne Unterstützung in der eigenen Partei ist Johnson Experten zufolge jedoch schon jetzt nicht mehr als eine „lahme Ente“ – im Amt, aber ohne Macht.

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