Skandal
Tamara darf nicht nach Hause
Kämpfen für die Rückkehr von Tamara: Jörg Z. und Katerina R. mit einem Foto der Achtjährigen.
Kämpfen für die Rückkehr von Tamara: Jörg Z. und Katerina R. mit einem Foto der Achtjährigen.
Elisa-Madeleine Glöckner
F-Signet von Elisa-Madeleine Glöckner Fränkischer Tag
Konstanz – Eines Tages holt das Jugendamt ein siebenjähriges Mädchen aus seiner Familie ins Heim. Es besteht Missbrauchsverdacht. Dieser bestätigt sich nicht. Das Kind darf trotzdem nicht zurück zu seinen Eltern.

Als sie das Kind aus seinem gewohnten Leben reißen, ist es Sommer, Tamara sieben Jahre alt und seit wenigen Monaten in Deutschland. Die Behörden bringen das Mädchen ins Heim, weil jemand die Familie, so wie es scheint, denunzierte. Der Freund der Mutter, das behauptete ein Nachbar, habe das Kind missbraucht. Die strafrechtlichen Vorwürfe zerschlagen sich – nach Hause darf Tamara trotzdem nicht. Doch es wird weiter geprüft. Weil die Mühlen der Bürokratie so langsam mahlen, konnte die Familie nicht einmal Weihnachten zusammen feiern. Im Wohnzimmer, Häuserkomplex, zweiter Stock. Am Tisch sitzt Katerina R. Die schlanke Frau mit den Perlenohrringen ist Mitte 40, sie kommt aus Tschechien. Erst im Februar 2022 ist sie mit ihrer Tochter zu ihrem Lebensgefährten an den Bodensee gezogen, in einen Stadtteil von Konstanz. Tamara hat sie alleine großgezogen, seit der Geburt. Und jetzt verloren, so empfindet sie das.

Wie das genau war, als ihr das Amt das Kind wegnahm, weiß sie nicht mehr. Hektik, der Stress, kaum Sprachkenntnisse. Zu schwer lastet der Tag auf der Mutter, obwohl sie viel vom Erlebten mit ihrem Therapeuten bespricht. An ihrer statt erzählt nun der Partner, Jörg Z., dass die Beamten gegen 6.30 Uhr kamen. Er sagt, dass sie alles mitgenommen hätten, das Mädchen, aber auch Computer und Handys. Nicht einmal die Erinnerungen an Tamara hätten sie da gelassen. Kaum ein digitales Foto sei geblieben.
Die Wohnung wirkt still, auch wenn im Hintergrund leise Popmusik läuft. Dass durch diese Räume normalerweise ein Mädchen tollt, darauf deuten Briefe mit Herzaufklebern oder die bunte Bettwäsche im Schlafzimmer. Dann die Kommode unter dem Fernseher, die mit einem Foto und Engelsfiguren und Sternen dem blonden Mädchen gedenkt. Fast ein Altar.

"Tamar ist traumatisiert"

Katerina R. trägt Schwarz. Sie sagt: „Tamara ist traumatisiert.“ Sie sagt: „Tamara kann nicht mehr sein wie früher.“ Und sie sagt: „Sie machen sie kaputt.“
Über Weihnachten in der WohngruppeSie, das sind in ihren Augen die Behörden. Das Jugendamt, das sowohl Mutter als auch Tochter die ersten Monate im Unklaren gelassen habe, wo sich die jeweils andere befindet. Das sich weigere, das Kind nach Hause zu lassen. Selbst über die Weihnachtsfeiertage musste Tamara in der Wohngruppe bleiben. Dazu muss man wissen: Das Amt ist berechtigt und sogar dazu verpflichtet, ein Kind in Obhut zu nehmen, wenn es entweder selbst darum bittet oder dringende Gefahr für sein Wohl besteht.
Tatsächlich leitet sich das Verhältnis zwischen Staat und Familie im Kinderschutz aus der Verfassung (Artikel 6 des Grundgesetzes) ab. Pflege und Erziehung sind das natürliche Recht und auch die Pflicht der Eltern, sagt Jörg M. Fegert, ärztlicher Direktor der Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie des Universitätsklinikums Ulm.

„Wo die Eltern versagen und die Kinder Schaden zu nehmen drohen, muss die staatliche Gemeinschaft handeln.“ Kindeswohlgefährdung ist laut dem Experten nie nur eine Zustandsbeschreibung, sondern immer eine Prognosefrage, bezogen auf das einzelne Kind. „Es muss eine gegenwärtige, in solchem Maß vorhandene Gefahr festgestellt werden, dass bei der weiteren Entwicklung eine erhebliche Schädigung des geistigen und/oder körperlichen Wohls des Kindes mit hinreichender Sicherheit zu erwarten ist.“
Tamara ist deshalb eines von 14 Kindern, die das städtische Jugendamt aktuell in seiner Obhut hat. Seit einigen Jahren steigen die Zahlen leicht, decken sich aber mit dem Trend auf Bundesebene. Unter staatlichem Schutz steht die inzwischen Achtjährige seit jenem Tag im Juli. Der Grund dafür soll sich etwa einen Monat zuvor zugetragen haben. In einer Sommernacht, in der ein fremder Nachbar Schreie aus der Wohnung der Familie gehört haben will, die besorgniserregend klangen.

Nachbar soll denunziert haben 

Jörg Z. erklärt das so: „Wir kamen vom Wasser nach Hause.“ Es war Sommer. Es war spät. Es müsse halb zwölf gewesen sein, als die Familie im Bett noch Schabernack getrieben habe, sagt er, wie man es eben tue, wenn die Kinder klein sind. Wenn man sie kitzelt. Sie lachen, alle kreischen.
Nachbar hat Missbrauch beobachtetDer Nachbar, dessen Familie in dem Häuserkomplex eine Ferienwohnung besitzen soll und den diese Redaktion nicht antrifft, hat das anders gedeutet: Tamara werde vom Partner der Mutter missbraucht. Er habe durch das Fenster des Familienschlafzimmers gesehen, durch die wenigen offenen Lamellen der Rollläden, wie er sich an dem Kind vergangen habe, während die Mutter daneben gelegen und nichts unternommen habe. Zumindest habe er das später so der Polizei erzählt, sagt das Paar.
Das staatliche Räderwerk setzte sich in Gang. Die Staatsanwaltschaft ermittelte wegen schweren sexuellen Missbrauchs. Das Kindeswohl sei akut gefährdet. Tamara wurde aus der Familie geholt, soweit das Protokoll.

Doch Monate später zerfiel der Vorwurf. Die Behörde, das belegen Dokumente, stellte die Strafverfahren gegen die Mutter und den Lebensgefährten ein. Schon die Polizeibeamten, die kurz nach dem Vorfall die Wohnung besichtigt hatten, seien zu einem ähnlichen Schluss gekommen, meint Jörg Z. Denn die Terrasse des Nachbarn endet da, wo das Fenster zum Schlafzimmer beginnt. Von dort in die Wohnung zu sehen, nachts, bei fast geschlossenen Jalousien – das ist kaum möglich.
Katerina R. und Jörg Z. waren erleichtert. Anfang Dezember flatterte der Beweis als Brief ins Haus und mit ihm die Hoffnung, Tamara könnte heimkehren. Doch sie kam nicht. Warum?
Das Jugendamt argumentiert damit, dass die Missbrauchsvorwürfe gegen Mutter und Partner nicht vollständig ausgeräumt sind. Die Staatsanwaltschaft könne laut Verfügung lediglich den Tatnachweis nicht mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit führen, heißt es etwas sperrig in der Stellungnahme. Restzweifel bleiben für das Amt also bestehen. Restzweifel, die es ernst nehmen muss, vielleicht sogar ernster als früher.

Debatte über Justizversagen 

Das hat Geschichte. Eine davon liegt in Staufen bei Freiburg. Keine zehn Jahre ist es her, dass dort ein kleiner Junge von seiner Mutter und deren Lebensgefährten anderen Männern im Internet für Sex angeboten wurde. Weil er damals unter der Aufsicht des Jugendamts gestanden hatte, löste der Fall eine Debatte über mögliches Behörden- und Justizversagen aus – und beeinflusst bis heute die Arbeit der Ämter. "Die Jugendämter, wie im Übrigen auch die allgemeine Öffentlichkeit, sind durch diese Vorfälle durchaus sensibilisiert“, schreibt die Stadt Konstanz hierzu. Jörg Z. kann das nachvollziehen. Er wirkt besonnen, hier aber sagt er deutlich: „Jetzt schießen sie über das Ziel hinaus.“ Überhaupt: „Es gilt doch die Unschuldsvermutung. Wir leben in einem Rechtsstaat.“ Und: „Wir haben nichts getan.“ Was Inobhutnahmen im Allgemeinen und Tamaras Fall im Besonderen angeht, kommt aber noch etwas anderes dazu. Demnach reicht es nicht aus, dass die strafrechtliche Grundlage wegfällt, um ein Kind in sein Zuhause zu geben. Sabine Geistler ist Fachanwältin für Familienrecht in Konstanz. Sie erläutert, dass die Einstellung eines Strafverfahrens nur ein Kriterium für das Jugendamt sein kann.

Jugendamt in der VerantwortungSelbst der Wille des Kindes könne nur ein Faktor von mehreren sein, die das Amt ganz genau prüfen muss, bevor es das Kind herausgibt. „Es ist immer eine Einzelfallentscheidung.“ Denn, so formuliert es die Stadt Konstanz wörtlich: „Das Jugendamt steht weiterhin in der Verantwortung, das Kind zu schützen, bis die aus Sicht des Jugendamtes weiterhin bestehenden Verdachtsmomente zur körperlichen Unversehrtheit und seelischen Gesundheit des Kindes mit ausreichender Gewissheit ausgeschlossen werden können.“ Das gilt für Jugendämter. Und für Richterinnen und Richter. Wer nämlich am zuständigen Amtsgericht nachfragt, bekommt eine vergleichbare Antwort. Franz Klaiber ist hier Direktor, das Familiengericht betreut Tamaras Fall. Auch wenn die Strafsache fallengelassen wird, müsse die Familienrichterin nach dem Antrag auf die sogenannte Herausgabe des Kindes eigenständig prüfen, ob die Gefährdungslage ausgeschlossen werden kann, sagt er. Sie müsse sich einerseits mit dem Schreiben der Staatsanwaltschaft auseinandersetzen, anderseits die Beteiligten anhören. Dazu zählt die Mutter, dazu zählt aber auch das Jugendamt.

Termin für die Anhörung ist schwierig zu finden

Gerade in diesem Fall, meint Franz Klaiber, sei es extrem schwierig gewesen, einen Termin für die Anhörung zu finden. Vor Weihnachten habe es aus unterschiedlichen Gründen nicht mehr geklappt. Urlaube, Feiertage, Krankheiten. Der nächstmögliche Termin war der 13. Januar. Die Zeit zwischen dem Antrag, der Anfang Dezember gestellt wurde, und dem nun anvisierten Termin hält der Amtsgerichtsdirektor für „nicht unvertretbar“.
Jörg Z. und Katerina R. sehen das anders. Wieso, fragen sie, verkennt das Gericht die besondere Dringlichkeit? Weshalb das Mädchen unnötig länger im Heim lassen? Dort, in der Wohngruppe, muss Tamara nun erst einmal bleiben. Ihre Mutter darf sie hier nur anderthalb Stunden pro Woche sehen, im Beisein einer anderen Person, die aufpasst und hört, worüber Katerina R. auf Deutsch mit ihrer Tochter spricht. Inzwischen, sagt die Mutter, sei das Kind schneeweiß. Seit Wochen sei es krank, erst Corona, jetzt ein Infekt.
Jörg M. Fegert vom Universitätsklinikum in Ulm meint: Gerade zu Weihnachten sei es verständlich, dass ein Kind die Zeit am liebsten zu Hause verbringen möchte. „Wenn es in einer Inobhutnahmeeinrichtung untergebracht ist, ist das sicher kein belastungsfreier Ort für ein Kind.“

Die Trennung von der Familie sei immer die Ultima Ratio. „Doch ist es im Kinderschutz leider so, dass man nicht immer zwei optimale Varianten hat, zwischen denen man wählen kann. Oft muss man die am wenigsten schädliche wählen.“ Indes hatte das Jugendamt einen Langzeitalkoholtest der Mutter und ihres Partners angefordert. Offenbar sei Alkohol in den sichergestellten Chatverläufen häufig Thema gewesen, hieß es in einem Schreiben an die Rechtsanwältin. Die Tests waren in beiden Fällen negativ.
„Vom Jugendamt heißt es jetzt, Tamara zeige Signale, dass sie nicht mehr in ihr gewohntes Umfeld zurück möchte“, erzählt Katerina R., neben ihr ein Stoß gestalteter Briefe, die das Kind in seiner Pflegeeinrichtung malte. „Ich liebe dich, Mama“, steht da drauf. Und Herzen mit „Mama+Jörgis+Tami.“ Und: „Ich will zurück nach Hause.“

Die Mutter sagt: „Ich habe Angst, dass sie mein Kind für Jahre behalten.“ Sie sagt: „Wir haben nichts mehr zu verlieren.“ Und sie sagt: „All das kostet enorm Kraft.“ Demgegenüber sieht sich das Jugendamt auf einem guten Weg, mit der Mutter in Kooperation zu kommen. Katerina R. widerspricht: „Nicht einmal bei Tamaras Aufführung in der Schule hat man mich informiert. Alle Eltern waren da.“ Was muss sie tun, damit sie Tamara wiederbekommt? Welche Auflagen erfüllen? Welche Tests erbringen? Die Mutter weiß es nicht. Das Jugendamt schreibt dazu nur: Das hänge von der „Qualität des Aufarbeitungsprozesses und der Stabilisierung der Situation des Kindes ab“, die bei der Anhörung im Januar Thema sei.
Bis heute hat den Aussagen des Paares zufolge keine Behörde mit ihm über die Anschuldigungen des Nachbarn im Sommer dieses Jahres gesprochen – auch nicht darüber, was wirklich vorgefallen ist. Katerina R. und Jörg Z. bereiten eine Gegenanzeige und Regressansprüche gegen denjenigen vor, der sie beschuldigte.

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