Wenn das Parlament in Straßburg tagte, ging David Sassoli zum Abendessen stets in das selbe italienische Restaurant im Zentrum der französischen Stadt. Er bestellte Spaghetti, trank ein oder zwei Gläser Weißwein und erlebte mit seinen Mitarbeitern Momente, in denen er nicht nur Präsident des Europäischen Parlaments war, sondern passionierter Europapolitiker.
Kamen andere Gäste wie etwa Journalisten auf ihn zu, lud er sie ein, sich an den Tisch dazuzusetzen – und so wurde die Runde nicht selten immer größer. „Er begann dann, über seine Ideen und Projekte zur Zukunft Europas zu reden“, erinnert sich Donato Bendicenti, Chef des Brüsseler Büros des italienischen Senders RAI.
Sassoli habe zwar über ernsthafte Dinge auf eine seriöse Art gesprochen, aber immer auch mit einem Funken Humor, mit Wärme, viel Freundlichkeit und einem Lächeln, so Bendicenti, der seinen italienischen Landsmann seit rund 25 Jahren kannte. „Er fand stets den richtigen Ton, Dinge zu erklären oder ein Argument anzubringen.“
Am frühen Dienstagmorgen ist David-Maria Sassoli in der Gemeinde Aviano in der norditalienischen Region Friaul-Julisch Venetien gestorben. Er wurde 65 Jahre alt.
Beim EU-Gipfel Mitte Dezember in Brüssel hielt Sassoli vor den Staats- und Regierungschefs noch eine Rede. Der finale Auftritt wird nun unter anderem sein Vermächtnis bleiben.
Europa brauche auch und vor allem „ein neues Projekt der Hoffnung“, appellierte er. „Wir müssen uns brennend wünschen, dass dieses Modell der Demokratie, der Freiheit und des Wohlstands sich verbreitet, dass es andere anzieht, zum Träumen bringt, und zwar nicht nur unsere europäischen Mitbürgerinnen und Mitbürger, sondern auch über unsere Grenzen hinaus.“ Es waren diese Entschlossenheit und Passion, die ihn auszeichneten.
Manchmal, so erinnern sich Weggefährten, saß Sassoli während Sitzungen am Tisch und begann plötzlich am ganzen Körper zu beben. Und dann brach es förmlich aus ihm heraus, sagte Jens Geier, Vorsitzender der Europa-SPD. Er habe nicht nur eine große Leidenschaft für seine politischen Ziele gehabt, sondern für sein Amt gebrannt. Geier bezeichnete Sassoli als „rhetorischen Titan“. „Er war es gewohnt, aufzutreten und dabei eine ungeheure Wirkung zu entfalten.“ Das lag vor allem an der ersten Karriere des Italieners.
Karrierestart in den Medien
Der progressive Katholik, geboren am 30. Mai 1956 in Florenz, arbeitete nach seinem Politikstudium zunächst als Journalist bei kleineren Zeitungen und Nachrichtenagenturen sowie in der Redaktion von Il Giorno in Rom, bevor er zum Fernsehen wechselte. Über sich selbst soll er einmal gesagt haben: „Ich bin kein Star, ich bin sehr langweilig.“
Trotzdem brachte er es in seiner Heimat zu großer Bekanntheit, weil er die Abendnachrichten im öffentlich-rechtlichen Sender Rai 1 präsentierte und auch nicht davor zurückschreckte, über organisierte Kriminalität und die Mafia zu berichten. Lediglich über Politik zu informieren, genügte Sassoli, der sich schon in jungen Jahren in Bildungsverbänden wie den Pfadfindern und der katholischen Jugendbewegung engagierte, jedoch nicht.
Gestalter statt Verwalter
Er wollte mitgestalten, galt als scharfer Kritiker von Rechtspopulismus, vor allem in Italien, aber auch außerhalb der Heimatgrenzen. Und auch gegen die Migrationspolitik vieler Mitgliedstaaten wandte er sich regelmäßig mit scharfen Worten, setzte sich stattdessen für eine menschliche Flüchtlings- und Einwanderungspolitik ein.
Ab 2009 saß Sassoli, der seine Frau und zwei Kinder hinterlässt, als Abgeordneter im EU-Parlament, war zudem Leiter der Delegation der Partito Democratico, die zur sozialdemokratischen Parteienfamilie zählt.
2014 wurde er zum Vizepräsidenten des EU-Parlaments gewählt, am 3. Juli 2019 dann zum Präsidenten. Zu seinem Bedauern war die Zeit überschattet von der Corona-Pandemie und geprägt von Telearbeit, sodass Sassoli im Parlament weniger häufig als erhofft Akzente setzen konnte.
In Erinnerung bleibt jedoch, wie er etwa im Namen des Parlaments die EU-Kommission verklagte, um die Behörde zu zwingen, Rechtsstaatssündern wie Polen und Ungarn die Fördermittel zu kürzen.
Am Montag hatte ein Parlamentssprecher mitgeteilt, dass Sassoli seit dem 26. Dezember in einer Klinik behandelt werde „wegen einer schweren Komplikation aufgrund einer Funktionsstörung des Immunsystems“. Schon in den vergangenen Monaten musste er regelmäßig aus gesundheitlichen Gründen Termine absagen.
Bestürzung in Brüssel
In Brüssel löste die Nachricht von seinem Tod Bestürzung aus. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen sprach von „einem traurigen Tag für Europa“. Die Deutsche würdigte Sassoli als „einfühlsamen Journalisten, herausragenden Präsidenten des Europäischen Parlaments und in erster Linie einen lieben Freund“. „Alle liebten sein Lächeln und seine Freundlichkeit. Aber er wusste auch für das zu kämpfen, woran er glaubte“, so von der Leyen.
Der französische Europa-Staatssekretär Clément Beaune bezeichnete Sassoli als „einen Kämpfer für Europa“. Er sei ein „aufrichtiger und mutiger Verteidiger der Demokratie und der Werte unserer Union“ gewesen. „Seine Herzlichkeit war eine Inspiration für alle, die ihn kannten“, so EU-Kommissions-Vizepräsident Frans Timmermans.
Nächste Woche wäre Sassolis Amtszeit ausgelaufen, da die 27 EU-Staats- und Regierungschefs im Jahr 2019 den Deal vereinbart hatten, dass ein Kandidat der Sozialisten für die ersten zweieinhalb Jahre der Legislaturperiode Parlamentspräsident sein solle, damit dann ein Politiker der Europäischen Volkspartei (EVP) das Amt übernehmen kann.
Zwar hatte es noch im Dezember ein Gerangel über die Postenvergabe gegeben, da Sassoli nicht ganz freiwillig den Stuhl räumen wollte, doch eine Mehrheit für ihn war nicht in Sicht – und so gab er auf.
In wenigen Tagen wird Nachfolgerin gewählt
Stattdessen wird in wenigen Tagen in Straßburg aller Voraussicht nach die 42-jährige Malteserin Roberta Metsola an die Spitze des Parlaments gewählt werden. Eigentlich hätte David Sassoli ein letztes Mal die Sitzung leiten sollen.