Seit Jahren wird gekämpft, gefordert und gestritten, doch nichts hat Viktor Orbán bislang zum Einlenken bewegt. Nun greift die EU-Kommission ganz offiziell zum äußersten Mittel und leitet gegen Ungarn das Verfahren gemäß des sogenannten Rechtsstaatsmechanismus ein, wie EU-Vizekommissionspräsident Margaritis Schinas am Mittwoch verkündigte.
Damit wird in Kürze der formelle Brief in Budapest einflattern, der schwerwiegende Konsequenzen für das osteuropäische Land bedeuten könnte. Ungarn droht der Verlust von hunderten Millionen Euro an Fördergeldern aus Brüssel.
Premiere in der EU
Das gab es noch nie in der Geschichte der Europäischen Union.
Der Mechanismus ermöglicht es der Kommission, einem Land Fördermittel zu kürzen oder gar zu streichen, wenn der Missbrauch von Geldern droht. Im konkreten Fall von Ungarn geht es vor allem um den Verdacht auf Korruption. Zudem soll es systematische Unregelmäßigkeiten bei öffentlichen Auftragsvergaben geben.
Filz und Geklüngel im Dunstkreis des Präsidenten
Kritiker verweisen seit Jahren darauf, dass häufig Personen aus dem familiären und Freundeskreis von Orbán oder aus seiner Partei Fidesz staatliche Ausschreibungen für sich entscheiden, bei denen nicht selten EU-Gelder mit im Spiel sind.
Doch das Prozedere ist langwierig. Nach dem Brief der EU-Kommission an die ungarische Regierung, in dem sie ihre Besorgnis über Rechtsstaatsverletzungen im Land ausdrücken und Fragen stellen wird, hat Budapest drei Monate Zeit, auf das Schreiben zu antworten.
Verfahren braucht eine breite Basis
Das Verfahren sieht zudem Anhörungen und Stellungnahmen mit jeweils längeren Fristen vor. Schlussendlich können die Gelder erst dann zurückgehalten werden, wenn die anderen 26 Regierungen den Vorschlag der Kommission mit qualifizierter Mehrheit billigen. Das heißt, 55 Prozent der Mitgliedstaaten, die zusammen mindestens 65 Prozent der Gesamtbevölkerung in der EU repräsentieren, müssen zustimmen.
Laut Koalitionsvertrag der deutschen Bundesregierung will Berlin den Prozess unterstützen. Die beschuldigte Regierung kann sich wehren und den EU-Gipfel anrufen. Das wiederum zögert das Verfahren weiter hinaus.
Bis es zu einer Kürzung der Fördermittel kommt, dürfte es also noch eine Weile dauern. Trotzdem, im EU-Parlament zeigte man sich mehrheitlich erleichtert. Grünen-Politiker Daniel Freund bezeichnete das Eröffnen des Verfahrens als „historisch“. „Endlich macht die EU Ernst.“
Der EU-Abgeordnete war einer der beiden Parlamentarier seiner Partei, die bei den Verhandlungen mit der EU-Kommission und dem Europäischen Rat zum Rechtsstaatsmechanismus beteiligt waren. Gleichwohl sei das Instrument nie als „Lex Orbán“ gedacht gewesen.
Auch Polen wäre dran wegen Einflussnahme auf das Justizwesen
Die EU müsse es überall durchsetzen – und in Polen seien die Kriterien ebenfalls erfüllt. „Frau von der Leyen darf die Mitgliedstaaten nicht ungleich behandeln“, so Freund. „Es geht vielmehr darum, dass alle EU-Länder die Grundwerte der Union einhalten.“
Tatsächlich geht für zahlreiche Abgeordnete der jetzige Schritt der Brüsseler Behörde noch nicht weit genug. Dementsprechend dürfte die nächste Auseinandersetzung nicht lange auf sich warten lassen. Der polnischen Regierung wird vorgeworfen, das Justizwesen umzubauen, Richter unter Druck zu setzen und sie ihrer Unabhängigkeit zu berauben.
Die SPD-Frau Katarina Barley, Vizepräsidentin des EU-Parlaments, kritisierte „das lange Zögern der Kommission“. Dadurch sei „viel zu viel Geld in den Taschen von Orbán und seinen Kumpels versickert“, so Barley.