Vermutlich hätte aus Rike Tretter, geboren 1958, eine gutverdienende Spitzenanwältin werden können. Sie ist genau, empathisch, klug, sprachgewandt. Sie hätte auch schon seit Jahrzehnten eine Ehe, ein ganz normales Familienleben führen können. Hätte. Wenn sie kein Opfer geworden wäre. Opfer ihres eigenen Vaters, es geht um Inzest. Der sexuelle Missbrauch durch den Papa in ihrer Kindheit hat der Frau aus Bad Brückenau fast das Genick gebrochen. „Ich war so lange tot“, sagt sie. Und sie hat es geschafft, Inzest-Überlebende zu werden. Darüber hat sie jüngst ein Buch „Papamädchen – Geschichte einer Metamorphose“ geschrieben, aus dem sie am 10. Mai in der Georgi-Kurhalle in Bad Brückenau lesen wird. Wir haben die mutige Frau zuvor für ein Interview getroffen.
Frau Tretter, wie geht es Ihnen?
Ich bin in der Neuorientierung. Über 30 Jahre lang habe ich durch Therapien an mir gearbeitet, das Buch, an dem ich mit Ruhephasen 12 Jahre geschrieben habe, ist, wenn man so will, der letzte Teil davon. Jetzt ist es auf dem Markt und ich frage mich: Was ist denn jetzt mein Lebensinhalt? Ich möchte nicht im Missbrauch steckenbleiben und ich fühle mich im Aufbruch.
Sinnbildlich gesprochen haben Sie nach 328 Seiten ein sehr dunkles Kapitel Ihres Lebens zugeklappt und sind jetzt bereit für Neues?
Ja, aber der Missbrauch ist ein Teil von mir. Ich habe das Trauma weitestgehend aufgearbeitet, aber es beeinträchtigt mich noch immer.
Was ist Ihr Ziel?
Ich möchte noch mehr fühlen können, als Frau und als Mensch. Ich war so lange tot, Frau Will. Gefangen in Einsamkeit und Sprachlosigkeit. Und wenn ich sprach, dann stotterte ich lange Jahre sehr schlimm. Ich habe so lange nicht wirklich als Frau gelebt. Mein Mann ist der erste Mann in meinem Leben, auf den ich mich einlassen konnte, obwohl ich ihn liebe. Früher konnte ich keine Nähe zulassen, vor allem nicht, wenn ich Menschen liebte, mein Leben war verbunden mit einer tiefen Einsamkeit. Ich lebe jetzt schon 64 Jahre auf dieser Welt, aber ich fühle mich dennoch in vielen Dingen noch am Anfang. Jetzt freue ich mich auf die Lesungen, den Kontakt mit den Zuhörern und auch auf eine neue Lebensaufgabe, von der ich noch nicht weiß, welche es sein wird.
Haben Sie keine Angst, dadurch beständig mit Ihrem Trauma konfrontiert zu werden?
Da muss ich achtsam sein, um die Balance zu halten.
Ihr Buch ist keine Anklage. Im Gegenteil. Sie sprechen fast liebevoll über ihren Vater.
Stimmt. Anklage hätte mich nicht weitergebracht, ich habe ihm nach einem langen Weg der inneren Heilung verziehen. Aber das ändert nichts daran, dass der Missbrauch emotional eine Katastrophe für mich war und mein ganzes Leben aus den Angeln gehoben hat.
Ich habe Ihnen beim Lesen des Buches eine große Portion Wut gewünscht.
Ich wollte meine Vergangenheit in Liebe loslassen, das war mein Weg, der mich in die Lebendigkeit geführt hat. Natürlich war da auch sehr viel Wut, Verzweiflung, Einsamkeit. Doch heute sage ich mir: Ich wäre heute nicht der Mensch, der ich bin. Wenn mich die Folgen des Missbrauchs auch heute noch beeinträchtigen, bin ich in meinem Denken doch absolut frei. Das ist schön – dennoch war es schlimm!
Sie weisen mehrfach darauf hin, dass es sich nicht um körperlich brutale Angriffe gehandelt hat. Sie schreiben von „Papas spielenden Händen“. Wird damit der Inzest nicht beschönigt?
Nein. Es war Gewalt! Auch zärtliche sexuelle Übergriffe sind Gewalt und zerstören eine kindliche Seele! Ich habe meinen Vater als kleines Mädchen abgöttisch geliebt. Als die körperlichen Übergriffe begannen, habe ich ihn in meinem Schrecken emotional verloren. Übermächtige Angst, Scham und Schuldgefühle bestimmten seitdem mein Leben. Kinder können mit sexuellen Übergriffen nichts anfangen, sie können sie nicht einordnen – auch dann nicht, wenn sie scheinbar liebevoll sind.
Denn damit sind die Weichen für eine gesunde sexuelle Entfaltung vollkommen falsch gestellt.
Natürlich! Ich war über ein Jahrzehnt mit einem Mann verlobt, den ich nicht liebte. Nur deshalb konnte ich seine körperliche Nähe überhaupt aushalten. Erst nach jahrzehntelanger Therapie war ich in der Lage, mich auf die Liebesbeziehung zu meinem Mann, den ich sehr liebe, einzulassen.
Sie haben es auch geschafft, über das große Tabu-Thema zu sprechen.
Das hat lange gedauert. Ich habe sieben Jahre lang als Anwältin jeden Montag eine Gruppentherapie besucht – und erst nach diesen sieben Jahren war ich in der Lage, erstmals den Inzest vage auszusprechen. So groß waren meine Angst, meine Scham- und Schuldgefühle. Erst dann hat die Aufarbeitung begonnen und damit die Heilung. Das war 1993, als ich mich zum ersten Mal für drei Monate in eine psychosomatische Klinik begab.
Eine lange Zeit.
Meine Lebensaufgabe. „Wer hätte man sein können, wenn nicht das Leben dazwischengekommen wäre!“ Dieser Satz stammt vom verstorbenen Publizisten Roger Willemsen und er hat mir erlaubt, ihn als ersten Satz für mein Buch zu verwenden. Natürlich frage ich mich, was aus mir ohne den Missbrauch hätte werden können. Dies auch in gesellschaftlicher Hinsicht. Die Inzestfolgen, das starke Stottern, die vielen Therapien haben es mir unmöglich gemacht, erfolgreich zu arbeiten, mir eine selbständige Existenz und auch ganz normale Freudschaften aufzubauen. All dies ist für mich schon ein surreales Gefühl.
Kompliment: Niemand käme heute auf die Idee, dass Sie mal gestottert haben.
Danke. Ja, das Stottern ist weg. Ich war viele Jahre lang ohne Sprache, wie so viele Inzestopfer konnte ich mich niemandem anvertrauen, verbunden mit tiefster Einsamkeit, wenn man dieses Geheimnis für sich behalten muss. Das ist emotional eine Katastrophe.
Lebt ihr Vater noch?
Ja, ich habe ihm vom Buch erzählt, bin mir aber nicht sicher, ob er es verstanden hat. Er ist 91 Jahre alt und ist pflegebedürftig. Meine Mutter starb 2018.
Sie haben ihre Eltern knapp vor ihrem 50. Geburtstag mit dem Inzest konfrontiert. Erst die Mutter, dann den Vater. Dass ihre Mutter nach ihren Worten ins Schlafzimmer ging, um zu beten, hat mich entsetzt.
Ich gehe davon aus, dass meine Mutter auch missbraucht wurde, sie hatte für mich viele Merkmale eines Missbrauchsopfers. Und deshalb kann ich Empathie für sie empfinden. Das machte es nicht besser für mich. Doch im Gegensatz zu mir hat sie sich nicht vom Missbrauch und seinen Folgen befreien können. In meinem Herzen fühle ich tiefe Dankbarkeit dafür, dass ich es geschafft habe.
Ihr Vater reagierte tief betroffen.
Ja. Ich konnte ihm klar machen, welche fatalen Folgen der Inzest für mein Leben hatte. Er war sehr betroffen und hat sich entschuldigt.
Was wünschen Sie sich von der Gesellschaft, damit Opfer mehr Schutz erhalten?
Auf Anzeichen achten. Ich habe stark gestottert, habe bis ich neun war ins Bett gemacht. Mitarbeitende in Schulen und Kindergärten, Verwandte, Freunde und auch die Nachbarschaft - alle sollten hinschauen. Schweigen ist das Schlimmste. Sexueller Missbrauch ist Seelenmord. Mein Wunsch war, Inzest-Überlebende zu sein. Und das ist mir gelungen.
Dafür haben Sie viel getan, Sie haben sich ärztliche und psychotherapeutische Hilfe geholt, letztendlich haben Sie dieses Buch geschrieben und sich darin einem Seelenstriptease unterzogen – Sie haben sich buchstäblich nackig gemacht.
Sich dieser Verletzlichkeit preiszugeben, war ein Gewinn für mich. Denn jetzt kann ich mit aller Klarheit sagen: So war es! Und ich mache mit meinem Buch Betroffenen Mut und helfe, dass sexueller Missbrauch aus dem Tabu kommt.
Die Lesung findet am 10. Mai um 18 Uhr in der Georgi-Kurhalle, Ernst-Putz-Straße 11, 97769 Bad Brückenau statt. Das Buch ist im „novum Verlag“ erschienen, hat 328 Seiten, Hardcover, Leineneinband. ISBN 978-3-903861-71-8