Es sind düstere Tage der Bundesrepublik. Fußballspiele werden abgesagt. Freibäder werden gesperrt. Konservendosen werden gehortet. Kinder dürfen nicht mehr draußen spielen. Die Menschen sind panisch, viele Gerüchte gehen um. Wir schreiben nicht Deutschland im Frühjahr 2020. Wir schreiben Deutschland im Frühjahr 1986. Es ist kein Virus, das die Menschen fürchten, sondern eine Wolke aus dem Osten.
Am 26. April 1986 explodiert das Kraftwerk im ukrainischen Tschernobyl. Zuerst treibt die Wolke in den Norden, Richtung Schweden. Erhöhte Strahlenwerte werden gemessen. Gerüchten über einen atomaren Unfall machen sich in der Republik breit, von tausenden Toten ist die Rede. Während in Polen und der DDR die Werte steigen, wiegeln die Politiker hierzulande noch ab. Eine Gefährdung sei «absolut auszuschließen», sagt der damalige Bundesinnenminister Friedrich Zimmermann (CSU) in der Tagesschau drei Tage nach dem Super-GAU. «Wir sind 2000 Kilometer weg.»
Doch dann dreht der Wind.
Angst machte sich in Deutschland breit
Mit der Radioaktivität macht sich auch die Angst breit in Deutschland. Spielplätze werden gesperrt, Sandkästen geleert, Gemüse wird untergepflügt. Keiner will mehr frisches Obst und Gemüse kaufen. Wer nach Hause kommt, zieht die Schuhe aus und duscht, um keinen verseuchten Staub in die Wohnung zu tragen. Hausbesitzer laufen mit Geigerzählern durch ihre Gärten, die Messgeräte sind ausverkauft. Und wie in Pandemie-Zeiten bleiben viele daheim. Wenn es regnet, laufen die Menschen in Panik wie um ihr Leben - wegen des Fallouts, den niemand recht einschätzen kann.
36 Jahre ist er nun her, der größte nukleare Unfall der Menschheitsgeschichte. Sogar in China und den USA werden damals erhöhte Strahlenwerte gemessen. Das genaue Ausmaß der Folgen von Tschernobyl kennt bis heute niemand. Pilze und Wildschweine sind hierzulande teils immer noch verstrahlt. «In den letzten Jahren haben wir noch Pilze mit 2000 Becquerel für Cäsium 137 gefunden», sagt Hauke Doerk vom Umweltinstitut München, das sich damals als gemeinnütziger Verein gegründet hatte. Caesium 137 hat eine Halbwertzeit von 30 Jahren. Gerade gut die Hälfte davon ist also bisher zerfallen. Der Grenzwert für Lebensmittel liegt laut Doerk bei 600 Becquerel pro Kilo, bei Milchprodukten und Babynahrung dürfen es nur 370 Becquerel sein.
Ukrainisches Atomkraftwerk brennt
In der Nacht zu Freitag (4. März) brennt in der Ukraine ein Gebäude des ukrainischen Atomkraftwerks Saporischschja. Es handelt sich um das größte Atomkraftwerk Europas. Das Ausmaß der Schäden sei unklar, schreibt das Bundesumweltministerium am Morgen. Bislang wurde keine erhöhte Radioaktivität gemessen, meldet die ukrainische Aufsichtsbehörde. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj sprach von einem gezielten Beschuss von Reaktorblöcken durch russische Panzer.
Sollte es in der Ukraine wieder zu einem Gau kommen, sind die Folgen völlig offen. Derzeit würde die Wolke wegen der Wetterlage nicht nach Deutschland getragen, sagt Umweltexperte Doerk. Doch der Wind kann wieder drehen. Allerdings, so sagt Doerk auch, werde mit Informationen über Radioaktivität heute offener umgegangen. Das Umweltinstitut betreibe seit Tschernobyl selbst eine unabhängige Messstationen.
Muss ich Jodtabletten kaufen?
Im Frühjahr 1986 regiert die Ungewissheit in der Bundesrepublik. Muss ich für meine Kinder Jodtabletten kaufen? Ist der Salat aus dem Garten noch genießbar? Die Katastrophenmanager sind überfordert. Bund, Länder und Kommunen schätzen die Gefahrenlage unterschiedlich ein. Mal wird alarmiert, mal wieder entwarnt. Das Kompetenz- und Kommunikationschaos erinnert an die Corona-Krise. Während der Bund einen Höchstwert von 500 Becquerel radioaktiven Jods pro Liter Milch zulässt, halten West-Berlin und Schleswig-Holstein nur 50 Becquerel pro Liter für sicher, Hessen mit dem damaligen Umweltminister Joschka Fischer sogar nur 20 Becquerel pro Liter. Selbst Städte definieren eigene Grenzwerte und machen das Chaos damit perfekt.
Die Bürger in der DDR sind noch schlechter dran. Sie erfahren von der Hiobsbotschaft nicht aus der Sowjetunion, sondern aus dem Westfernsehen. Dort hören sie Begriffe wie Becquerel und Millirem und Diskussionen über die Frage, ob man Gemüse und Pilze noch gefahrlos verzehren kann. Die DDR-Medien hingegen spielen das Ereignis herunter. Regionalblätter wie die Erfurter SED-Zeitung «Das Volk» drucken erst drei Tage nach der Katastrophe gut versteckt eine Zehn-Zeilen-Meldung der sowjetischen Nachrichtenagentur TASS ab, in der von einer «Havarie» die Rede ist, nicht aber von Toten und Verletzten. Zeitungsfotos zeigten DDR-Bäuerinnen beim Salatpflanzen. Partei- und Staatschef Erich Honecker rät seinem Volk, Obst und Gemüse vor dem Verzehr nun zweimal zu waschen.
Radieschen und Salat bleiben liegen
Mancher äußert sich im Osten aber auf subtile Weise. In Rostock bringt ein Physiklehrer ein Bund Radieschen und einen Geigerzähler mit in den Unterricht, um - wie er verkündet - zu zeigen, dass die Westmedien unberechtigt Panik schüren. Der Geigerzähler piept los, sobald er den Radieschen nahekommt, und der Lehrer entschuldigt sich für den vermeintlichen Fehler. Die Kinder kichern - und manchem wird erst abends im Gespräch mit den Eltern klar, dass der Lehrer ihnen allen einen wohlkaschierten Hinweis gegeben hatte. Radieschen oder Salat bleiben denn auch in den DDR-«Kaufhallen» erstmal liegen.
In Deutschland wird als Reaktion auf das Kompetenzchaos im Juni 1986 das Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit gegründet. Die Grünen erstarken. Die Anti-Atombewegung formiert sich. Massendemonstrationen der Anti-AKW-Bewegungen begleiten die aufgeheizte Debatte. Doch erst 25 Jahre später führte die Atomkatastrophe von Fukushima, obwohl sie Deutschland nicht direkt traf, zum parteiübergreifenden Bekenntnis zum Atomausstieg.
Nun wird erneut just wegen des Krieges in der Ukraine über längere Laufzeiten diskutiert - obwohl gerade im Krieg die Meiler zur tödlichen Gefahr werden.
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