Sie jagt mit dem Mountainbike den Berg hinunter, so als wäre sie unverwundbar. Als gäbe es keine Schwerkraft und keine Knochen, die brechen könnten. Der Wind schneidet ihr ins Gesicht. „Ich fühlte nichts“, erzählt Marlena. Kein Kribbeln, kein Adrenalin, keine Angst – und das war das Beängstigende.
Tief in ihr war längst etwas gebrochen. Als Überlebende von sexuellem Missbrauch möchte die Bambergerin ihre Geschichte erzählen, um bewusst zu machen, dass nicht nur die Taten, sondern auch der gesellschaftliche Umgang mit Missbrauch Betroffene traumatisiert. Durch Wegschauen, Überforderung, Schweigen – oder, weil Angehörige zum Täter halten, wie in ihrem Fall.
Alles begann, als sie vier Jahre alt war.
Die Welt, die Marlena kannte, erschütterte, als ihre Eltern sich trennten. Mit ihrer Mutter lebte sie den Alltag. Am Wochenende besuchte sie ihren Vater – und tauchte ein in ein Leben voller Leichtigkeit. „Er nannte mich ,Prinzessin‘“, erzählt sie.
Einmal hob er seine kleine „Prinzessin“ auf sein Motorrad, gemeinsam sausten sie durch den Landkreis Bamberg. „Das war aufregend“, erinnert sich Marlena. Sie habe sich an ihn geklammert.
Ihr Vater habe ihr danach erklärt, dass sie zu jung für diese Spritztour gewesen sei. Deshalb durfte ihre Mutter nichts erfahren. „Ich habe mich gefühlt, wie sein ,Partner in Crime‘. Es war unser kleines Geheimnis.“
“Es war unser kleines Geheimnis.
”
Sie genoss die Zuwendung, wenn er sie in den Arm nahm, über ihr Haar strich und sie kuschelten. In diesen Momenten habe sie sich geborgen gefühlt. Doch eines Tages wanderten die vertrauten Hände weiter.
Der Beginn eines neuen Geheimnisses.
Über zehn Jahre hinweg wurde Marlena von ihrem Vater nachweislich in 50 Fällen missbraucht. 33 stufte ein Gericht als „schweren sexuellen Missbrauch von Kindern“ ein. Doch die Bambergerin ist überzeugt: „Man hat nicht mal 40 Prozent der Taten angerechnet.“
Marlena steht von ihrem Küchentisch auf, öffnet das Fenster, um Luft zu schnappen. „Mein Körper ist komplett angespannt. Ich schwitze und friere gleichzeitig, wenn ich darüber spreche.“ Aus Schutz gegenüber ihrer Familie möchte sie unbekannt bleiben. Daher wurde ihr Name in diesem Text geändert.
Missbrauch in Bamberg: „Ich machte mit. Ich schämte mich.“
Als Kind versuchte sie, sich nichts anmerken zu lassen. „Tagsüber war ich aufmüpfig und rotzfrech.“ Nachts kreisten die Gedanken. Das kostete Kraft. „Im Unterricht bin ich oft eingeschlafen. Ich erinnere mich, dass manche Lehrer mich irgendwann schlafen ließen.“
Nie hätte sich Marlena getraut, zu sprechen: „Die Gesellschaft predigt: ,Missbrauch ist verboten!‘ Und ich machte mit. Ich schämte mich.“
Die Erinnerungen an die Taten seien wie ein Wollknäuel im Kopf gewesen, das sie erst entwirren musste. Manchmal sieht sie dabei eine verschlossene Tür aus der Wohnung ihres Vaters vor ihren Augen. „Bis heute weiß ich nicht, was das bedeutet.“
Statistisch sind ein bis zwei Kinder pro Schulklasse betroffen
Der Unabhängigen Bundesbeauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs zufolge ist davon auszugehen, dass ein bis zwei Kinder pro Klasse sexuelle Gewalt erleben oder erlebt haben.
Marlena sagt dazu: „Missbrauch passiert so häufig. Aber die Mitte der Gesellschaft spricht kaum darüber. Wie soll dein kleines Kinderhirn verstehen, dass das nicht in Ordnung ist?“
Eines Tages nach dem Unterricht, sie war 16 Jahre alt, wird Marlena von einer Lehrerin angesprochen. „Ohne mir Vorwürfe zu machen, fragte sie: ,Ist bei dir alles okay? Da stimmt doch etwas nicht. Du kannst mir erzählen, was los ist.'“ Marlena spürte, dass sie vertrauen darf. Doch verriet nichts.
Kurz darauf gab es Neuigkeiten im Leben ihres Vaters: Mit seiner Partnerin bekommt er Nachwuchs – eine Tochter. „Das änderte alles“, erzählt Marlena. „Ich wollte meine Schwester schützen.“
Sie sprach doch mit ihrer Lehrerin und entschied, ihrer Familie und der Partnerin ihres Vaters von den Taten zu erzählen. „Meine Lehrerin hat das clever gemacht: Ich hielt das für meine Idee. Sie sagte mir: ,Ich glaube dir erst, wenn du das gemacht hast.' Sie kannte mich gut genug, um zu wissen, dass sie mich mit dieser Aussage reizen konnte.“
Marlena fühlte sich bestärkt – und war sich sicher, dass danach alles besser werden würde.
Was dann passierte, fasst sie so zusammen: „Es ist ,havarieartig‘ gescheitert.“
Die Partnerin des Vaters warf ihr vor, ihr Leben zerstört zu haben. Ein Teil der Familie väterlicherseits wollte eine Anzeige unterbinden. „Ich glaube, dass sie so reagiert haben, weil es einfacher ist, wenn alles so bleibt, wie es ist. Das Ansehen der Familie war höhergestellt als das Wohl des Kindes“, so Marlenas Eindruck heute. „Sie sagten: ,Er hat halt mal rübergelangt.‘“
Täter manipulieren Kinder
„Täter sind Künstler der Manipulation, sie tragen Masken“, sagte Ursula Enders von der Beratungsstelle „Zartbitter“ einmal in einem Interview mit der WAZ. „Sie manipulieren nicht nur Kinder, sondern vernebeln auch die Wahrnehmung der Umwelt. Sie wirken oftmals sympathisch und großzügig. Vor allem verstehen sie es, Intrigen zu ihrem eigenen Schutz zu säen.“
Die junge Frau wollte am liebsten alles rückgängig machen – und vergessen. Mehrfach sei sie gefragt worden: „Warum bist du dann immer wieder zu ihm gegangen?“ „An dieser Frage verzweifelte ich. Ich konnte es selbst nicht verstehen.“ Doch dann war da noch der Gedanke an ihre neugeborene Schwester. Marlena war 18 Jahre alt, als sie ganz allein zur Polizei ging und ihren Vater anzeigte.
84,5 bis 95 Prozent zeigen eine Vergewaltigung nicht an
Dem Bundesverband der Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe in Deutschland zufolge zeigen 84,5 bis 95 Prozent eine erlebte Vergewaltigung nicht an: „Die wenigsten Täter werden verurteilt.“ Angst, die Beziehungen zu gefährden, fehlende Kraft oder die Angst vor Stigmatisierung können Gründe sein.
„Die nächsten Jahre waren tränenreich“, berichtet Marlena. Ihre Familie habe sie unter Druck gesetzt. Marlena zog die Nebenklage wieder zurück.
Ermittlungsverfahren wird zur Belastung
Marlena verließ Bamberg, studierte. Die Staatsanwaltschaft ermittelte währenddessen gegen ihren Vater. Das Verfahren dauerte 1,5 Jahre – drei Semester, in denen sie sich kaum konzentrieren konnte. Flashbacks holten sie ein: Sie spürte Dinge, die passiert waren. „Wie Phantomschmerzen“, beschreibt Marlena. „Manchmal schläft mein Unterleib ein.“ Und immer wieder diese Tür, die sich nicht öffnet.
„Für mich war die Zeit des Verfahrens fast belastender als der Missbrauch. Ich steckte in einem Loch: Als wäre vom Mount Everest bis zum Grundwasser gebohrt worden, so tief war ich drinnen – und ganz allein.“ Sie brach das Studium ab, fing an, zu essen. „Ich wollte auf keinen Fall eine schlanke oder attraktive Frau sein.“
“Die Gesellschaft predigt: ,Missbrauch ist verboten!‘ Und ich machte mit. Ich schämte mich.
”
Männer habe sie unter Generalverdacht gestellt. „Sie sind für mich wie eine Gefahr.“ Doch am Verfahren gegen ihren Vater waren fast nur Männer beteiligt: Ermittler, Richter, Schöffen, Staatsanwalt. Mit ihnen musste sie über die Taten sprechen. „Ich schämte mich in Grund und Boden.“
Sie sollte angeben, wie lange und oft sie im Urlaub war. „Das wurde detailliert erfragt und die Tatzeiträume akribisch herausgerechnet.“ Manche Übergriffe schienen ihr zu banal. Dass er sie als Teenager gegen die Wand drückte und zwischen die Beine fasste, so etwas habe sie gar nicht erst erwähnt. Überhaupt: Wen sollte sie als Zeugen angeben? Welche Beweise anführen? „Viele der Taten blieben unberücksichtigt“, sagt Marlena.
Der Prozess vor dem Landgericht Bamberg
Ihrem Vater begegnete Marlena im Gerichtssaal vor dem Landgericht Bamberg wieder. „Ich hörte ihn räuspern – das hat mich erschlagen.“ Er legte ein Teilgeständnis ab. Dann das Urteil: Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren – ausgesetzt auf Bewährung. „Als das Urteil gesprochen wurde, war ich in einem derart labilen Zustand, dass es mir egal war, ob da 30 oder 300 Mal steht. Ich wollte nur, dass diese zermürbende, erniedrigende und verlustreiche Phase meines Lebens endet.“
Das Leben danach
Marlena verdrängte das Urteil, machte sich fürs Leben stabil. Sie wurde im Job erfolgreich – und verliebte sich. Seit fast zwanzig Jahren ist sie in einer festen Partnerschaft. Ihr Vater lebt immer noch mit seiner Partnerin. Zu ihrer Schwester hatte sie nie Kontakt.
„Mir wurde irgendwann bewusst, wie niederschmetternd und bitter das Ergebnis vor Gericht war. Die Taten hätten mich das Leben kosten können. Und das war weniger wert als Steuerhinterziehung.“ Sie begann mit der Aufarbeitung. Heute vermutet Marlena: „Das Motorrad war eine Täterstrategie. Mein Vater wollte wissen, wie gut ich schweigen kann.“
Marlena beschreibt sich selbst als „Gesellschaft-gierig“ – weil sie dann abgelenkt ist. Freunde bezeichnen sie als „Energiebündel“ und als „kämpferisch“. Aber auch als eine, „die immer an die eigenen Grenzen geht – manchmal zu weit.“ So wie beim Mountainbiken vor einigen Wochen. Die Erinnerungen holten sie ein. Sie wurde wütend. Die verschlossene Tür wieder vor Augen – und die Ungewissheit, was passieren wird, sollte sie sich je öffnen.
Sind Sie von Missbrauch betroffen? Unter diesem Link finden Sie Hilfsangebote. Bei sexualisierter Gewalt – auch im Zweifelsfall – können Sie unter 0800/2255530 anrufen – anonym und kostenfrei.
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