Neue Nachruf-Serie Die große Tragödie im Leben der coolen Frau Kleemann Charlotte Kleemann // Archiv Charlotte Kleemann von Susanne Will TEILEN  11.08.2024 Bad Kissingen – Ein Leben geprägt von Krieg, Flucht und der Liebe zu einem einbeinigen Mann. Charlotte Kleemanns Geschichte ist voller Höhen und Tiefen. Der erste Teil unserer neuen Serie "Menschen wie du und ich". Liebe Leserinnen und Leser, wir erinnern mit der neuen Serie "Menschen wie du und ich" an nicht-prominente Menschen aus dem Landkreis Bad Kissingen, die in jüngster Zeit gestorben sind. Wenn auch Sie wünschen, dass wir das Leben eines geliebten Menschen nacherzählen, kontaktieren Sie uns gerne per E-Mail an Susanne.Will@Saale-Zeitung.de. Dieser sehr persönliche Service ist mit keinen Kosten für die Hinterbliebenen verbunden. Ob sie als Mädchen vielleicht einmal geweint hat? Schwer vorstellbar. Der Mann, der Charlotte Kleemann sehr gut kannte und sie betreute, wiegt den Kopf. Tränen, sagt der Bad Kissinger Harald Remmers, gab es bei ihr nicht. „Die wurden ihr aberzogen, damals, im sehr begüterten Haus in Allenstein in Ostpreußen“, im heutigen Polen. Auch Zuneigung entgegenzunehmen war nicht ihr Ding. Remmers: „Sie war keine Frau, die man hätte in den Arm nehmen können.“ Wer sie nicht näher gekannt hätte, hätte meinen können, sie kenne auch keine Liebe. Weit gefehlt. Es war ausgerechnet die Liebe, die sich durch ihr Leben zog. Die erfüllte Liebe zu Friedrich, dem Mann mit nur einem Bein, aber für sie war er vollkommen. Für ihn ertrug sie in den spießig-starren 1960er-Jahren das Getuschel, erst die Geliebte des noch verheirateten Friedrichs zu sein, um dann 1964 das Verhältnis in gesellschaftlich-geordnete und akzeptierte Bahnen, sprich Heirat, zu lenken. Familienglück hatte Charlotte Kleemann nicht. Friedrich (links) hatte Sohn Dietrich (2. v. re., im Gespräch mit einer Nichte von Charlotte Kleemann) mit in die Ehe gebracht. Was Charlotte Kleemann auch versuchte: Dietrich verschloss sich vor beiden, besuchte auch die Beerdigung des Vaters nicht. Der Jurist, den die "Zeit" später "das Hirn" innerhalb einer EU-Abteilung in Brüssel nannte, starb einsam. // Archiv Charlotte Kleemann Das Drama ihres Lebens: Stiefsohn Dietrich Und dann war da die unerfüllte mütterliche Liebe zu Dietrich, Friedrichs Sohn. Dass die ins Leere lief, dass sich Dietrich entzog, scheint für die Frau, die keine Kinder kriegen durfte, ein Lebensdrama gewesen zu sein. Dietrich Kleemann, Jurist wie der Vater, Dietrich, den die Wochenzeitung „Die Zeit“ 1998 „das Hirn“ genannt hat, das damals mit 49 Jahren Kette rauchend in Brüssel über das Wettbewerbsrecht in Europa gewacht hat. Dietrich, dem sie Butterbrote geschmiert und die Doktorarbeit getippt hat. Dietrich, der 2018 einsam starb. Geboren 1925 in eine wohlhabende Familie Wer 1925 geboren wurde, hatte noch eine Chance auf eine glückliche Kindheit gehabt. So wie Charlotte Ehlert. Sie war das dritte von vier Kindern, der Vater Geschäftsführer eines Metallgroßhandels, die Mutter kümmerte sich um Kinder und Haushalt, es gab keine Not. Es ist nicht überliefert, wie Charlotte als Teenager den Krieg erlebte. Klar ist: im Januar 1945 - sie war 20 - war die Familie Teil des Flüchtlingstrecks, zusammen mit 450.000 anderen Ostpreußen quälten sie sich über Haff und Nehrung auf der Flucht vor den Russen. Viele Familienangehörige ertranken in der eiskalten Ostsee. Ihre Mutter und ihr Bruder überlebten mit ihr. // Grafik: Dagmar Klumb / Foto: IMAGO, ITAR-TASS 2021 gab sie in der Saale-Zeitung einen Einblick, was sie damals durchmachten. Elektronisch hatte sie ihre Erinnerungen festgehalten. Schon hoch in den 80ern hatte sie sich die Handhabung von Handy, Tablet und Computer zeigen lassen, schnell begriff sie die digitale Welt, erstellte Excellisten, verschickte Mails. Ein Fest für die Frau, die immer in der Zukunft dachte. Fortan tippte sie ihr Leben in den Computer. Ihre Mutter opferte sich - und wurde vergewaltigt Ein Auszug wurde in der Saale-Zeitung veröffentlicht, es ging um ihre Odyssee an die Küste über Danzig und Johannisburg, um Beschuss und das Glück, Platz auf einem Schiff der Handelsmarine zu finden. Sie erinnerte sich, wie ihre Zöpfe abgeschnitten wurden – die Russen sollten denken, sie sei ein Junge. Es half nur nicht: Sie erzählte, wie ihre Mama sie vor einer Vergewaltigung schützte, indem sie sich selbst als Opfer anbot. Sie erinnerte sich an ihr durch den albtraumhaften Marsch entzündetes Kniegelenk, aus dem Krankenschwestern in einer zum OP-Saal umfunktionierten Mädchentoilette schwarzen Eiter pressten. Ab da hasste Charlotte Kleemann Bewegung und liebte Kuchen. Zu ihrem trockenen Humor gehörte, die Kriegs-Invalidität ihres Mannes für sich zu nutzen: „Zum Glück hat er nur ein Bein, dann muss ich nicht tanzen oder wandern.“ Vom ersten Job im Lager zur Chefsekretärin Die Flucht endete in Kassel, Mutter, Bruder und sie hausten in einer Baracke, bis ihnen 1955 eine Wohnung zugewiesen wurde. Bei AEG fand sie einen Job im Lager, der ihr Leben sicherte. Für Charlotte Kleemann war dieser Job nur eine Durchgangsstation, wie so viele Begebenheiten in ihrem Leben. „Für sie galt: Weitermachen, Lösungen finden, in die Zukunft schauen“, so hat Harald Remmers sie kennengelernt. Sie arbeitete sich hoch, wurde Chefsekretärin bei AEG. Bis es soweit war, nahm sie Nebenjobs an, bediente auch auf einem Juristenkongress. Und da stand er dann, der Friedrich: ein sehr großer Mann auf einem Bein. Die Liebe auf den ersten Blick, bei beiden, auch wenn Friedrich verheiratet war. Er war begeistert von der intelligenten, wissbegierigen Frau, sie heirateten 1964. Das Ehepaar Kleemann beim Ausgehen. Dass Friedrich nur ein Bein hatte, nahm Charlotte mit Humor: "Dann muss ich wenigstens nicht tanzen oder wandern." // Archiv Charlotte Kleemann Ob es dieser Frau etwas ausgemacht hat, wie damals üblich die zweite Reihe zu besetzen? Harald Remmers meint: „Nein“, denn: Ohne ihr Wissen, ohne ihre Neugierde, ohne ihre Kritikfähigkeit und ihren Weitblick hätte es Friedrich nicht zum Regierungsdirektor im Finanzamt Saarbrücken geschafft. Sein Erfolg war auch der ihre. So schmiss sie den Haushalt und hielt ihm den Rücken frei. Wenn der Herr Regierungsdirektor nach Hause kam, und um Ruhe zu finden seine Zinnsoldaten bemalte, richtete sie das Abendbrot, bei dem sie ihm Ratgeberin, Kritikerin und Zuhörerin war. Er zockte im Casino, sie saß dabei - und häkelte Zur Zerstreuung ging Friedrich Kleemann gern ins Casino. Das Paar fuhr dafür sehr weit, bis nach Monte Carlo. Der Regierungsdirektor sollte nicht beim Zocken gesehen werden. Und natürlich begleitete Charlotte ihn. Während er spielte, saß sie daneben – und häkelte. Im Alltag suchte Charlotte Kleemann, die keine Kinder kriegen konnte, das Glück mit Stiefsohn Dietrich – auch wenn der damals schon 20 Jahre alt war. Sie versuchte, ihm eine zweite Familie zu bieten und half beim Studium. Dietrich ging nach Brüssel als Patentanwalt, dort galt er als Genie. Mit Macken: Heute würde man ihm wohl ein Aspergersyndrom attestieren – hochbegabt, aber nicht fähig, zwischenmenschliche Kontakte zu pflegen. Auch nicht zu seinem Vater, auch nicht zu seiner Stiefmutter. Per Schiff ans Nordkap: Der Kran hievte Friedrich raus So hat Dietrich wohl auch nicht mitbekommen, wie Charlotte den Alltag bunt machte. Hürden gab es für sie nie, ihr Antrieb war pure Neugierde aufs Leben und das, was es ihnen bieten kann. Sie reisten viel, trotz seines Handicaps. Ihren Traum, einmal mit dem Postschiff zum Nordkap zu fahren, erfüllte sie, dank ihrer hervorragenden Organisationskraft. Auch Landgänge waren für den einbeinigen Friedrich kein Problem, solange Charlotte für einen Kran gesorgt hatte – denn der hievte ihn über die Bordwand. 33 Jahre hatten sie da im Saarland gelebt. Und mussten ertragen, wie nach und nach alle ihre Freunde dort verstarben oder dement wurden. Nach einem Urlaub in Bad Kissingen verliebten sie sich in die Stadt und zogen 1999 um. Im Nachbarn Harald Remmers fanden sie einen Menschen, der sich kümmerte, weil er die beiden Alten so sympathisch fand. Friedrich Kleemann, die Liebe ihres Lebens, starb 2004. // Archiv Charlotte Remmers 2004 starb Friedrich Kleemann. Schon damals war der Kontakt zu Sohn Dietrich abgerissen. Als Charlotte ihm 2009 Geld vom Verkauf einer Wohnung zukommen lassen wollte, meldete er sich nicht. Vielleicht lag es an ihrer ureigenen Art, klar und ohne Geschmuse sofort zum Punkt zu kommen – so, wie sie es in ihrer preußischen Familie gelernt hatte: „Hallo Dietrich“, schreibt sie mit der Maschine, „am 17.12.2009 habe ich einen Termin bei der Bank, um mich beraten zu lassen, wie ich am besten mein Geld anlege. Ich habe Dich schon wiederholt gebeten, mir Deine Kontonummer mitzuteilen, damit ich Dir Deinen Anteil an der Verkaufssumme überweisen kann. Sollte ich bis zum 17.12.09 keine Antwort haben, gehe ich davon aus, daß Du an dem Geld nicht interessiert bist und werde es mit in meine Pläne einbeziehen. Viele Grüße“, handschriftlich folgte ihre Unterschrift. Schmerz klärte sie mit sich selbst Dietrich meldete sich nie. Er starb 2018 alleine, ein 72-jähriger Millionär, an inneren Blutungen. „Dass sie keinen Kontakt mehr zu ihm hatte, beschäftigte sie bis zu ihrem Tod“, so Harald Remmers. Doch Tränen hat sie darüber nicht vergossen. Aller Schmerz schien in ihr eingeschlossen zu sein, das Einzige, was sie sich erlaubte, war, darüber zu reden – mit ganz wenigen Menschen. Dass Friedrich gestorben war, sah Charlotte Kleemann als Erlösung an. Auch hier war ihre Maxime: Das Leben geht weiter, es muss weitergehen. Dement war er und wurde neben ihr immer kleiner. Als er nicht mehr wusste, wer sie war und kurz darauf starb, dankte sie dem Herrgott, dass er nun erlöst war. In sein Grab wollte sie nicht. Sie wollte ein eigenes auf dem Parkfriedhof. Nach Friedrichs Tod modelte sie die Wohnung in Bad Kissingen um, statt zweckdienlicher Einrichtung lebte sie jetzt ihr Faible für Designer-Möbel aus. Wieder ein Umzug, mit 84 Jahren 2008, schon vier Jahre als Witwe und alleine in Bad Kissingen, versuchte es Charlotte dann noch einmal in der saarländischen Heimat, weil da die letzte Freundin wohnte – da war Charlotte Kleemann schon 84 Jahre alt. Als die aber dann in die USA übersiedelte, blieb ihr niemand mehr. Außer: Harald Remmers, der frühere Nachbar in Bad Kissingen. Harald Remmers: „Sie fragte mich, ob ich mir vorstellen könnte, ihr Betreuer zu sein.“ Nicht als Vormund, sondern als lieber Mensch, so habe sie ihn kennengelernt. Das habe ihn „unwahrscheinlich“ geehrt. „Sie war ein humorvoller, intelligenter und liebevoller Mensch“, erzählt er. „Bei ihr konnte man auch einfach einmal sitzen, vor sich hinschauen und schweigen. Ich habe ihre Wärme gespürt, die sie nach außen so nicht zeigen konnte.“ So zog Charlotte Kleemann zurück nach Bad Kissingen in die Seniorenwohnanlage Rosenhof. Ein Carport extra für den Dackel Filou, Remmers Dackel, war immer dabei, wenn Harald Remmers sie besuchte, um beispielsweise auch mal ihre Finanzen durchzugehen. Wehe, er kam ohne Filou zu Besuch. „Wenn Filou krank war, dann hat sie ihn aus der Hand gefüttert, dann musste er bei ihr im Bett schlafen.“ Charlotte Kleemann, die zwar schnelle Autos liebte, aber schon lange nicht mehr fahren konnte, mietete im Rosenhof ein Carport für 60 Euro im Monat an: Für Remmers Besuch, damit der Dackel immer schön im Schatten war, wenn die drei von ihren Ausflügen zum Kaffeetrinken zurückkehrten. Und natürlich brachte Remmers neben dem Dackel immer Süßspeisen mit, die sie liebte. Charlotte Kleemann // Harald Remmers In dieser Zeit erfuhr Harald Remmers viel über die Frau, die sich nur von einer alten Arbeitskollegin duzen ließ. Und die durfte sie sogar „Pummelchen“ nennen. Wie sie Zeit ihres Lebens die Verwandten im Osten mit Carepaketen – Jeans, Werkzeuge, Autoreifen, Bücher – unterstützte, wie viel sie spendete. „Ich hatte Überblick über ihr Finanzsystem. Immer war sie eine politisch hochinteressierte Frau, die nicht nur Organisationen gespendet hat.“ So steckte sie auch gerne mal dem Arzt, mit dem sie zufrieden war, 100 Euro zu. Nur ein Mensch durfte Charlotte Kleemann duzen: eine ehemalige Arbeitskollegin. Die durfte sogar "Pummelchen" zu ihr sagen. // Archiv Kleemann Der Darmkrebs kam zurück 1990 quälte sie Darmkrebs, er kam 2023 zurück. Von Metastasenbildung wollte Charlotte Kleemann nichts mehr hören. Lieber unterhielt sie sich – dank hervorragender Medizin gut mit Schmerzmitteln eingestellt - weiter mit Harald Remmers über die Nazis von früher und heute, über die Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche, der sie bis zuletzt als Steuerzahlerin die Treue gehalten, aber niemals unkritisch gegenüberstand, über den Aufstieg der AfD, der sie schockierte. Aus Neugierde aufs Leben reiste Charlotte Kleemann viel, auch mit dem Bus. // Archiv Charlotte Kleemann Diese Gespräche hätten für Remmers noch ewig weitergehen können. Doch am 13. Mai 2024 starb Charlotte Kleemann im Rosenhof. Sie war allein, als es so weit war. „Ich glaube, sie wollte alleine sterben“, sagt Remmers. Nur Minuten nach ihrem Tod trafen Harald Remmers und seine Frau im Rosenhof ein. „Und dann haben wir Frau Kleemann noch lange im Arm gehalten, sie abgebusselt, gestreichelt, ihre Hand gehalten – das hätte sie zu Lebzeiten vielleicht gewünscht, aber nie zugelassen.“ Charlotte Kleemann wurde nur 98 Jahre alt. „Nur“ deshalb, weil sie immer 100 werden wollte. Harald Remmers: „Das hat sie sicher geärgert." +++ Bleiben Sie mit der Saale-Zeitung auf dem Laufenden und holen Sie sich jetzt unsere kostenlosen Newsletter. +++