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Tag des Wanderns
Christine Thürmer und ihr Leben auf extremen Wandertouren
Christine Thürmer
Christine Thürmer auf einer ihrer Wandertouren // Christian Biemann
Forchheim – Am 14. Mai ist Tag des Wanderns. Diese Forchheimerin ist so viel gewandert wie kaum eine Frau vor ihr. Außerdem hält sie Vorträge und schreibt Bücher darüber. Was treibt Christine Thürmer an?

Ein nasskalter Wintertag in Berlin-Marzahn. Die Konditorei Engel, geduckt unter robusten Betonpfeilern, bemüht sich vergeblich, dem Tag etwas von seinem Licht abzugeben. Christine Thürmer, gerade mit dem Fahrrad angekommen, setzt sich nass an den kleinen Kaffeehaustisch. Das Bild ist stimmig, ein Familienschirm in ihrer Hand ist kaum vorstellbar.

Aufgewachsen in Forchheim

Ihre Größe überrascht etwas, ansonsten entspricht das Erscheinungsbild Thürmers genau jenem, welches man von ihren Fotos kennt. Denn diese sollen ihrer Meinung nach nicht vor allem schmeichelhaft, sondern aussagekräftig sein. Selbstüberhöhung liegt Christine Thürmer nicht, genauso wenig wie maskierte Koketterie. Sie weiß genau, wer sie ist und was sie kann, ebenso wie das, was sie nicht kann. Und beides kommuniziert sie deutlich – eine seltene Authentizität, die polarisieren kann.

Die junge Christine wächst in Forchheim auf, unweit der St. Martinskirche. „Ich habe sehr viel Reibung erzeugt“, erzählt sie. Sowohl zu Hause als auch in der Schule: „Die Eltern waren dominant, mit einem geschlossenen Weltbild.“ Als Mädchen weiß Thürmer damals zwar noch nicht, wohin sie will im Leben, aber „ganz bestimmt nicht dahin, wo meine Eltern sind“.

Christine Thürmer
Mit dem Zelt alleine in der Wildnis: Christine Thürmer liebt die Einsamkeit auf ihren Touren. // Andrew Burns

Thürmer sieht sich nicht als Aussteigerin

Mühelos Klassenbeste treibt die Schülerin am Herder Gymnasium manchen Lehrer in die Verzweiflung. Ihre Meinung sagt sie unumwunden, die Anerkennung ihres Umfeldes ist ihr nicht wichtig. Das Mädchen kommt gut mit sich selbst zurecht. Eine hochintelligente, sich selbst bewusste Einzelgängerin, und eine Prüfung für die Eltern. Den beiden ist Thürmer heute dankbar für vieles, aber „ich wollte nicht wie sie in Forchheim/Oberfranken sitzen in einem spießigen Haus.“ Ihr Ziel: studieren, arbeiten und viel Geld verdienen. Gesagt, getan.

Heute wehrt sich Thürmer gegen die Wortwahl, vor 20 Jahren aus dem erfolgreich umgesetzten, äußerst gut betuchten Leben ausgestiegen zu sein, um durch die Welt zu gehen. Sie sieht sich nicht als Aussteigerin: „Es war eine tolle Zeit, ich wollte da nie ausbrechen“. Denn Christine Thürmer hat beruflich etwas gemacht, was sie besonders gut kann und entsprechend gemocht hat: Sich mit Genugtuung in Konflikte gestürzt und Struktur ins Chaos gebracht.

Christine ThürmerForchheim & Fränkische Schweiz
Abendessen mit Campingkocher: die gebpürtige Forchheimerin Christine Thürmer auf einer ihrer extremen Wandertouren. // Andrew Burns

"Hurra, ein Konflikt"

Dafür lässt die junge Erwachsene nach dem Abitur Forchheim hinter sich und zieht nach Berlin, um Gesellschafts- und Wirtschaftskommunikation zu studieren. In die Unternehmenssanierung führt ihr Weg, nachdem sie zu einem Seminar für Führungskräfte verdonnert wird: „In meiner zweiten Führungsposition hab ich die Leute total polarisiert. Die einen Mitarbeiter haben mich geliebt, die anderen haben Unterschriften gegen mich gesammelt. Mein Chef verpasste mir also ein Führungskräfteseminar.“ Hier lernt Thürmer einiges über sich.

Eine Psychologin stellt ihr das von Adrian Schweizer aufgestellte Leitwertemodell vor. Dieses geht davon aus, dass Menschen verschiedene Leitwerte haben, zum Beispiel Harmonie, Sicherheit, Anerkennung, Macht oder Intensität. Während die meisten Menschen nach Harmonie und Sicherheit streben, sind für Christine Thürmer Intensität und Macht wichtig. Im Angesicht eines Konfliktes ruft Thürmer also glücklich: „Hurra, ein Konflikt! Der ist intensiv, daraus kann ich lernen!“ Im Gegensatz zu den meisten Menschen, die darin eine Bedrohung für ihre Sicherheit und Harmonie sehen - so auch ihre Mitarbeiter.

Herausforderungen bei extremen Wanderungen

Die Arbeit in der Unternehmenssanierung ist also wie für Thürmer gemacht, und erwartungsgemäß wurde sie darin äußerst erfolgreich. Wieso dann der Schlussstrich? Warum das alles aufgeben zugunsten des Extremwanderns – als unsportliche Frau mit etwas Übergewicht und Plattfüßen, wie sie es pointiert?

Damit sind wir wieder bei Schweizers Leitwertemodell. Ein weiterer wichtiger Wert für Christine Thürmer ist die Neugierde: „Ich wollte wissen, ob ich es kann“, ist die klare Antwort. Sie konnte es, und kam nie wieder davon los. Denn dieses Leben ist für Thürmer wie die Möhre vor der Nase des Esels: Alleine, auch monatelang unterwegs, aus einer intensiven Erfahrung in die nächste, überrascht von unfassbar herrlich angsteinflößenden Herausforderungen. Thürmer kann also nicht stehen bleiben, sie geht und geht, alleine. Zwar gern auch mal mit anderen, aber am liebsten alleine.

Christine ThürmerForchheim & Fränkische Schweiz
Die Extrem-Wanderin Christine Thürmer unterwegs auf einer ihrer Touren. Die gebürtige Forchheimerin lebt inzwischen in Berlin, wenn sie nicht gerade auf einer ihrer Abenteuer unterwegs ist. // Andrew Burns

Alleine oder lieber unter Menschen?

Ist das nicht zu viel des Alleinseins? Ist es nicht: „Ich bin sehr gern unter Menschen, aber ich brauche sie nicht. Ich bin gern alleine. Ich mag mich persönlich wirklich gerne.“ Christine Thürmer kommt mit sich klar. Sie ist neugierig auf die Menschen, fragt ihnen Löcher in den Bauch, kann gut zuhören und unterstützen. Aber sie braucht sie nicht, weder zur Bestätigung noch für Anerkennung.

Dies ist das Leben, welches Christine Thürmer will und welches sie braucht. Ganz ungeschoren kommt sie damit aber nicht davon: „Dafür zahlt man einen Preis, wie für jeden Lebensstil“, sagt sie. „Den zahle ich immer Weihnachten, Neujahr und zum Geburtstag.“ Denn alleine die Welt zu durchstreifen, funktioniert nur für Ungebundene. Eine Familie wollte sie nie haben, dennoch, „fehlt mir das andere manchmal.“

Christine ThürmerForchheim & Fränkische Schweiz
Unterwegs in der Weite der Natur: Christine Thürmer liebt das Wandern. // Andrew Burns

"Was für ein geiles Leben!“

Die meiste Zeit ihres Lebens aber, wenn sie alleine in ihrem Zelt inmitten der menschenleeren Welt sitzt, kann Thürmer ihr Glück kaum fassen: „Das Wandern hat mich zu einem zutiefst dankbaren Menschen gemacht. Ich lag jeden Abend in meinem Zelt und dachte: Was für ein geiles Leben! Ich war so unglaublich dankbar.“

Und wie das so ist bei Thürmer, denkt sie weiter: „Mir wurde klar, dass Dankbarkeit voraussetzt, dass man sich bei jemandem bedankt.“ Sie weiß, dass sie vieles auf diesem Weg selbst geschafft hat, „aber es gab auch viele Zufälle in die richtige Richtung.“ Also ist es für sie nur logisch, „aus dieser Dankbarkeit heraus zurück zu Gott“ zu finden. Eine rationale Entscheidung für das Spirituelle.

Es wird ein langes Gespräch im Café Engel, getragen von einer großen Authentizität und Offenheit Thürmers. Zurück bleibt man etwas verwundert und gefangen in einem Paradox – dem emotionalen Netz einer nüchternen Menschenfängerin.

Dieser Artikel erschien bereits am 15. Januar 2024 und wurde nun aktualisiert. 


Über Christine Thürmer

Sie nennt sich die "meistgewanderte Frau der Welt“. Auf ihre erste Langstreckenwanderung ging sie im Jahr 2004 nach einer beruflichen Zwangspause. Und in der Wanderszene trägt sie seitdem den Namen „German Tourist“. Im Jahr 2007 hat sie ihren Job dann endgültig an den Nagel gehängt und durchstreift die Welt seitdem zu Fuß, auf dem Rad oder per Boot. 62.000 Wanderkilometer und 30.000 Radkilometer hat sie mittlerweile in den Beinen. Und dazu kommen noch 6500 Kilometer auf dem Boot. Zusammengenommen reicht das für mehr als zwei Weltumrundungen. 

Ihre Reisen führten Christine Thürmer nach Australien, Neuseeland, Japan, Südkorea, mehrfach in die USA, nach Singapur, Malaysia und Brunei. Von 2012 bis 2018 durchwanderte sie Europa zuerst von Spanien bis ans Schwarze Meer. Dann ging es noch einmal von Tarifa in Spanien bis an Nordkap in Norwegen. Insgesamt legte sie dabei 15.200 Kilometer zu Fuß zurück. Seit 2016 hat sie über ihre Reisen vier Bücher verfasst, die im Handel erhältlich sind.

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