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Analyse
Der Brexit und sein verflixtes siebtes Jahr
Die Bootsaktion organisierte Nigel Farage, einstiger Ukip-Chef, um 2016 für den Brexit zu werben. Die EU sei die Titanic und der Brexit das „Rettungsboot“, sagte er damals. Nun hält er den Brexit für gescheitert.
Die Bootsaktion organisierte Nigel Farage, einstiger Ukip-Chef, um 2016 für den Brexit zu werben. Die EU sei die Titanic und der Brexit das „Rettungsboot“, sagte er damals. Nun hält er den Brexit für gescheitert. // EPA/Facundo Arrizabalaga/dpa
London – Dass sogar sein einst glühendster Verfechter Nigel Farage den Brexit als gescheitert erklärt, lässt aufhorchen. Knapp sieben Jahre hat diese Erkenntnis gedauert.

Auf insgesamt 150 Plakaten blickt Nigel Farage, einst einer der wohl bekanntesten britischen Euroskeptiker überhaupt, betrübt auf die Briten nieder. Darauf ist zu lesen, was dieser kürzlich gegenüber der BBC sagte: „Der Brexit ist gescheitert.“

Anti-Brexit-Gruppe führt Farage vor

Lanciert wurde die Aktion nicht von dem umstrittenen Journalisten, Aktivisten und Politiker selbst, sondern von „Led by Donkeys“ („Angeführt von Eseln“), einer Anti-Brexit-Gruppe, die das Zitat für ihre Zwecke aufgriff.

Dass sogar Farage den Brexit für misslungen erklärt, lässt aufhorchen. Schließlich war der frühere Ukip-Chef vor dem Referendum im Jahr 2016 gemeinsam mit dem Ex-Premier Boris Johnson einer der lautstärksten Verfechter des EU-Austritts.

Farages Schutzbehauptung: Brexit-Entscheidung war richtig – nur die Umsetzung der Tories war zu schlecht

Farage machte im Gespräch mit der BBC Mitte Mai selbstverständlich nicht den Austritt selbst, sondern dessen Umsetzung für das Scheitern verantwortlich. Die konservative Tory-Partei hätte die Wähler verraten, den Brexit also nicht richtig organisiert, betonte er.

Nigel Farage
Nigel Farage // Danny Lawson/PA Wire/dpa

Doch wie steht es um das Vereinigte Königreich, knapp sieben Jahre nach dem Referendum zum Austritt aus der EU? Und war es, wie von Farage behauptet, nur ein Problem der Umsetzung?

Langsamstes Wachstum aller G7-Staaten

Weil viele Krisen gleichzeitig ablaufen, ist es für Ökonomen zwar schwer, die exakten Auswirkungen des Brexit in Zahlen auszudrücken; doch in einer Sache sind sie sich einig: Der Austritt aus dem europäischen Binnenmarkt hat sich ganz klar negativ auf den Handel und die Wirtschaft ausgewirkt.

Während sich andere Länder nach der Pandemie wieder erholt haben, weist Großbritannien das langsamste Wachstum aller G7-Staaten auf. Die Konsequenzen sind für das Land somit fatal und der Schaden selbst für Farage nicht mehr zu leugnen.

Taktiererei: Tories finden keinen Ausweg aus den akkumulierten Krisen des Landes

Verschlimmert wird die Lage dabei tatsächlich durch die konservative Tory-Regierung, die seit dem Austritt aus der EU keinen klaren Kurs findet.

Denn wie sie mit der neuen Freiheit umgehen will, darauf konnte sich die zutiefst gespaltene Partei nicht einigen. Selbst im Bereich Migration, wo die Regierung einen Kurswechsel erwirkt hatte, bleibt die Lage kompliziert.

Zunahme der Migranten hebelt punktebasiertes neues GB-Einwanderungssystem aus

So hat die Einführung eines punktebasierten Einwanderungssystems, bei dem Migranten bestimmte Kriterien erfüllen müssen, die Besorgnis in der Öffentlichkeit zwar abgemildert; gleichzeitig ging mit dem Brexit jedoch auch das Versprechen an die Bürger einher, die Zahl der Menschen, die auf die Insel kommen, zu senken.

Gelungen ist dies den Tories aus nachvollziehbaren Gründen nicht. Schließlich suchen angesichts der Weltlage immer mehr Geflüchtete Schutz in Großbritannien. Außerdem ist das Land aufgrund des Fachkräftemangels auf Arbeiter aus dem Ausland angewiesen, insbesondere im Gesundheitsbereich.

Probleme bei Kontrolle von Einwanderung: Großbritannien leidet unter den Konsequenzen seiner Selbstisolierung

Hinzu kommt, dass der Brexit die Lage in Bezug auf die Kontrolle illegaler Einwanderung sogar noch verschlechtert hat. Denn während die britische Regierung einst andere EU-Mitgliedstaaten dazu auffordern konnte, Geflüchtete zurückzunehmen, wenn sie auf dem Weg nach Großbritannien über sichere Länder gereist waren, ist dies nun vorbei.

Um die Situation in den Griff zu bekommen, muss das Land nun bilaterale Abkommen aushandeln und setzt überdies auf Abschreckung.

Jüngstes Beispiel dieses Trends, der seit dem Brexit durch den Einfluss rechter Hardliner in der Partei weiter Fahrt aufgenommen hatte, ist die „Illegal Migration Bill“. Dieser Gesetzesentwurf sieht vor, dass Einwanderer, die mithilfe von Schleppern in kleinen Booten über den Ärmelkanal auf die Insel kamen, in Lagern interniert und dann auf schnellstem Wege in vermeintlich sichere Länder wie Ruanda ausgeflogen werden sollen.

Wildwest-Maßnahmen zur Reduzierung der Migration schaden Großbritanniens internationalem Ansehen

Der Vorschlag ist nicht nur kaum umsetzbar, er widerspricht auch internationalen Normen und schadet damit dem Ruf Großbritanniens auf der Weltbühne. Dem Argument, dass es schlicht Zeit benötigen würde, bis sich die Vorteile des Brexits offenbaren, schenken indes immer weniger Briten Glauben.

Laut einer Umfrage des Meinungsforschungsinstitutes YouGov sind aktuell 56 Prozent überzeugt davon, dass der Austritt aus der Europäischen Union ein Fehler war.

Farage hat die Briten in der falschen Richtung vor sich her getrieben

Nigel Farage bezeichnete den Brexit einst als „Rettungsboot“ und die EU als Titanic. Nun jedoch sind die Briten erst recht auf der Suche nach Rettung.

 

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